„Geht es Ihnen besser, Herr Doktor?“
Sie sollen nochmal zum Doktor rein“, hieß es im vergangenen Sommer. In diesem Moment ahnte ich, was ich kurz darauf sicher wusste: Ich hatte
Krebs. Noch auf dem Weg zu Fuß in die Praxis des Kollegen hatte ich mir klargemacht: Entweder, du bist gleich erleichtert und kannst so weitermachen, oder aber die Katastrophe bricht über dich herein.
Typisch Mediziner, war ich nie zu einer Vorsorgeuntersuchung gegangen und auch sonst so gut wie nie in irgendeiner ärztlichen Behandlung. Früher wusste ich nicht, was mir heute klar ist: Dass ich mich für unverwundbar hielt, wie ein Achilles, der seiner Ferse nicht achtet und der seine Kraft ganz und gar den Patienten zur Verfügung stellt. Die eigene Erholung war reine Privatsache, wurde nur selten in wohlüberlegten Momenten in den ärztlichen Gesprächen thematisiert, und auch dann ausschließlich, um das Thema des Gleichgewichtes, der Ruhe und der Erholung mit dem Klienten zu seinem Nutzen zu bearbeiten. Die psychotherapeutische Abstinenzregel verlangt vom Psychiater, eigentlich von jedem Arzt und jedem Psychologen, die eigenen Angelegenheiten nicht zum Thema zu machen und eigene Reflexe, Gefühle und Einfälle ganz in den Dienst und unter das Anliegen des Gegenübers zu stellen. Eigene Geschichten, seien es nun Problem- oder Erfolgsgeschichten, sollen den Patienten weder belasten noch ablenken.
Dies ist dem gut ausgebildeten Helfer klar. Ihm wird aber oft nicht in derselben Intensität klar sein, dass diese Regel eine Grenze bezeichnet und dass dies grundsätzlich bedeutet, dass dadurch ein Gebiet diesseits und eben auch ein Gebiet jenseits dieser Grenze definiert ist.
Wo wir es vermeiden können, gilt es, die Grenze der Abstinenz nicht zu übertreten. Was sollen wir aber tun, wenn ein Thema so dominiert, dass wir nicht daran glauben, es „draußen lassen“ zu können? Ein typisches Beispiel eines solchen Themas ist zweifellos eine eigene schwere und – zumindest potenziell – lebensbedrohliche Erkrankung des Arztes selbst.
Ziel dieses kleinen Aufsatzes ist, den vielen Patientinnen und Patienten, die mich mit ihrem ehrlichen Mitgefühl eine Krise etwas besser haben ertragen lassen, meinen Dank auszudrücken. Den Dank drücke ich aus, einfach indem ich erzähle, was ich beobachtet habe.
Das andere Ziel betrifft meine ärztlichen und psychologischen Kolleginnen und Kollegen, die ich zur Reflexion über eine solche reale oder gedachte, gewesene oder mögliche zukünftige Konstellation von eigener Bedürftigkeit ermuntern will. Ein Patentrezept dafür gibt es selbstverständlich nicht. Auch hier gilt: Ich kann von einer konkreten Erfahrung erzählen. Die jeweiligen Schlussfolgerungen muss jeder Einzelne für sich ziehen. Die Erzählung ist, systemisch formuliert, ein Angebot für eine Anschlusskommunikation. Nach anfänglichem Schock über die Krankheit und nach großem Erstaunen über die Reaktionen in meinem Umfeld ist jetzt – bei aller Unabgeschlossenheit des Prozesses – Zeit für eine Reflexion. In dieser Reflexion wird sich neben oder besser gesagt unter der analysierenden Darstellung die zwangsläufige Verschränkung von persönlich-betroffener und fachlich-verstehender Ebene zeigen.
Mir war also im Juni ohne lange Überlegung klar, dass ich angesichts einer herannahenden Operation, eventuell gefolgt von Bestrahlung und Chemotherapie, nachfolgender Schonzeit und Reha-Maßnahme, nicht herumdrucksen konnte mit der Wahrheit, weshalb ich, der ich sonst nie in der Arbeit fehlte, lange fort bin. „Ich bin krank“ zu sagen und dann gleich zu bedeuten, „ich sage aber nicht, was los ist“, schien mir so unecht und auch ungerecht vor dem Leitbild einer Arzt-Patienten-Beziehung auf Augenhöhe mit voller gegenseitiger Achtung, dass ich mit der Wahrheit herausrücken wollte. Sie hieß: „Ich habe Krebs, muss operiert werden und falle eine Weile aus. Ich hoffe, das Unvermeidliche wird gut verlaufen, aber ich muss abwarten und auf ein gutes Ende hoffen, auch wenn es nie mehr so sein wird wie es einmal war.“
Ein komplettes Verschweigen wäre in diesem Sinne nicht nur ein bedenkliches Verheimlichen, sondern auch unrealistisch gewesen. Es galt, wenigstens Gerüchte über meinen Zustand zu vermeiden, oder sie zumindest zu verringern. Denn sie schossen sofort trotz klarer Ansage meinerseits ins Kraut. Schon nach wenigen Tagen hieß es von manchen Klienten, sie hätten gehört, etwas Schlimmes sei passiert, ich sei krank, und darauf folgten Angaben aller Art, einschließlich der Mitteilung an mich, ich sei todkrank, ich würde sofort meine Praxis schließen, und was noch alles. „Ich hab schon gedacht, ich seh Sie gar nicht mehr. Meine Mutter ist auch an Krebs gestorben“, war eine typische frühe und spontane Äußerung, die ich zu hören bekam.
Diese stille Post konnte ich immerhin in eine konkrete Aussage verwandeln. Ich hoffte ja, weiter arbeiten zu können, es war auch noch mehrere Wochen hin bis zum OP-Termin. Und ich lebte immerhin noch. Viele Patientinnen und Patienten waren aber trotz meiner Relativierung betroffen, und viele erschüttert, plötzlich mit Angst erfüllt und oft ohne Hemmung, ihre eigenen Ängste direkt beim Namen zu nennen: „Fallen Sie als mein Arzt weg?“; „Kommen Sie nicht mehr wieder?“; „Wo soll ich denn jetzt hingehen?“; „Sie haben doch nie gefehlt!“ Einerseits spürten sie also sehr direkt meine Not und verliehen ihrer Sorge und ihrer Sympathie ebenso direkten Ausdruck. Andererseits war die Psychodynamik des Unbewussten sofort offenkundig: Hier reagiert das Kind auf seine Mutter oder auf seinen Vater, jedenfalls auf jene frühe Bezugsperson, der gegenüber die offene oder die tief vergessene Erwartung unbedingter Hilfe in der Not überdauert hat.
An wörtlichen Aussagen aus der Zeit nach meiner glücklichen Rückkehr finde ich in meinen Notizen etwa jene der 57-jährigen Frau mit erst drei Jahre zurückliegendem Dickdarmkarzinom: „Mir geht es einfach nicht gut. Das ist von meinem überstandenen Krebs. Wie geht es Ihnen denn eigentlich, wenn ich fragen darf? Gut? Das freut mich. Dann auch Ihnen weiterhin alles Gute!“
Und die Worte einer 50-jährigen Frau, die schon sehr lange in Behandlung ist: „Geht es Ihnen wieder besser, Herr Doktor? Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, Sie sind ein guter Arzt. Was soll ich denn machen, wenn Sie nicht mehr da sind?“
Und schließlich ein deutlich jüngerer Kurde in seinem gebrochenen Deutsch: „Sie, haben Sie gut, wegen Krankheit? Dann lieber Gott helfen!“
Seltener als diese offenkundigen Übertragungsvorgänge auf das stark und mächtig phantasierte mütterliche und väterliche Objekt zeigte sich die Reaktion wie auf ein Geschwisterkind mit Aussagen in der Richtung von „Wer ist hier der Kränkere? Wer verdient hier mehr Zuwendung?“ Und auch die ins Bösartige, ins Destruktive, ins unaufgelöste Kämpfen verdrehte Haltung zu den Eltern fand sich, wenn nämlich Äußerungen zu vernehmen waren wie: „Jetzt trifft es Sie also auch“, wobei das Wörtchen „endlich“ oder etwas wie „Jetzt können Sie mal sehen…“ zwischen den Zeilen und im sprachlichen wie nicht-sprachlichen Ausdruck zu hören und zu spüren war. Gefühlt wurde eine solche Botschaft von mir augenblicklich, schmerzlich und bedrohlich. Dies waren die Momente der oben angesprochenen Vermengung von Betroffenheit und Distanziertheit. Günstigenfalls bei guter, das heißt beweglicher Binnenwahrnehmung konnte ich nach der Irritation wieder akzeptierend, ja anerkennend sehen: „Das ist ihr oder sein Problem. Ja, ich weiß das …“
Rasch galt es zu lernen, diese Analyse des jeweiligen Hintergrundes schnell und sicher zur Hand zu haben, sie aber auch immer sorgfältig in jedem einzelnen Fall zu prüfen.
Dies wäre die zu wünschende, jahrzehntelang eingeübte professionelle Haltung. Die vor allem zu Beginn überwiegende andere Reaktion zeigte sich mir aber, überraschte mich, ja überfiel mich regelrecht in einer nicht-professionellen und nicht-abgegrenzten, meinerseits tief betroffenen Regung, die da lautete: „Sie macht sich ehrliche Sorgen um mich.“ Oder: „Er hat Angst um mich.“
Solche Psychodynamik besagt: Für einen Augenblick dreht sich das Übertragungs- und Gegenübertragungs-Geschehen der therapeutischen Situation um: Für einen Augenblick sind die Rollen im Sprachspiel des „Wie geht es Ihnen? Wobei kann ich Ihnen behilflich sein?“ umgekehrt. Mag ich noch so zügig begrenzen und meine Rolle des Helfenden definieren und das Angebot erneuern, dass der Andere Hilfe erwarten darf. Für einen kurzen, aber tief hineinwirkenden Moment ist die Ordnung auf den Kopf gestellt. Ich werde an den wütenden Appell im Lukas-Evangelium erinnert: „Arzt, hilf dir selber!“ Dieser Ruf birgt beides in sich: Grenzenloses Vertrauen und gnadenlose Zumutung.
Das ist bis heute, einige Monate nach dem Schock, nach der OP, nach der Pause, nach der Schonphase so. Oft sage ich den Satz: „Ich mache jetzt langsamer, ruhiger und weniger.“ Manchmal sage ich diesen Satz leichthin, manchmal sehr absichtlich zur Grenzziehung. An die Stelle des Schreckens ist die Besinnung getreten. Jetzt, nach Monaten, berührt mich die Frage „Geht es Ihnen wieder besser, Herr Doktor?“ durch all mein Wissen hindurch anders. Ich höre sie jetzt mit dem „dritten Ohr der inneren Erfahrung des Therapeuten“, wie der Psychoanalytiker Theodor Reik es genannt hat. Ehrlich zu antworten, ist inzwischen das eine, aber wieder ganz auf die Klienten zentriert zu sprechen, ist das andere.
An guten Tagen gelingt es mir spielend, bald auf die Gegenfrage zu kommen, wie es meiner Patientin und meinem Patienten geht, nämlich derzeit, unter anderem in ihrer Sorge um mich und vor dem Hintergrund ihrer besorgten Frage, aber doch in ihrer eigenen Befindlichkeit und Gestimmtheit und in ihrem Leid und ihrer Not. Auch an nicht so guten Tagen zwinge ich mich, in der gleichen Weise zurückzufragen. Denn zu vermeiden gilt, was ich nicht selten höre: Unglückliche Schilderungen von Patienten, die die Probleme ihres Therapeuten ausgebreitet bekommen, wofür viel Zeit der Therapiestunde beansprucht wird. Dies geschieht vermutlich oft aus Angst des Helfers vor der Empathie mit sich selbst, deshalb mangelnder Empathie mit den Klienten und schließlich überbordendem Drang zur eigenen Mitteilung.
Um dem entgegenzuwirken, sollen wir uns Hilfe holen. Ich persönlich fand sie durch Aufsuchen meiner Lehr-Analytikerin. Wer nicht schon eine solche Person großen, gewachsenen Vertrauens hat, ist zweifellos durch das nach wie vor vorhandene Tabu, sich die eigene Hilfebedürftigkeit einzugestehen, zusätzlich herausgefordert. Ich bin aber der festen Überzeugung: Immer ist es einen Versuch wert!
Alle Helfer können und sollten sich so etwas eingestehen wie: Es wird eine ganze Weile andauern, dass ich an nicht so starken Tagen manchen Gedanken im Hinterkopf und manchen Gefühlen im Bauch noch länger nachhänge, manchmal bis zum nächsten Gespräch mit schon einem nächsten Gegenüber. Und auch, dass es dann immer wieder an der Zeit ist, mich selbst zu fragen: „Geht es dir eigentlich wieder besser, Herr Doktor?“
Dr. Karl-Heinz Reger, Schleswig