Langzeitnachsorge ehemaliger Krebspatienten
Spätfolgen früher erkennen, Morbidität und Mortalität verringern: Diese Ziele verfolgen die Initiatoren eines bundesweiten Projektes, das von Lübeck aus gesteuert wird. Studienleiterin ist Dr. Judith Gebauer, die sich über Ziele im Interview mit Uwe Groenewold äußert.
Jährlich erkranken etwa 2.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland an Krebs; über vier Fünftel von ihnen können geheilt werden. Doch wie geht es weiter? Welchen gesundheitlichen Risiken sind die Genesenen in der Zukunft ausgesetzt? Unter Leitung des UKSH, Campus Lübeck, ist jetzt ein bundesweites Projekt zur Langzeitnachsorge ehemaliger Krebspatienten an den Start gegangen, das von der H.W. & J. Hector-Stiftung in den kommenden fünf Jahren mit 2,99 Millionen Euro gefördert wird. Studienleiterin Dr. Judith Gebauer erläutert im Gespräch mit Uwe Groenewold Inhalte und Ziele des „LE-Na“-Projekts.
Warum ist die Langzeitnachsorge bei pädiatrischen Krebspatienten, die heute erwachsen sind, so wichtig?
Dr. Judith Gebauer: Mittlerweile können über 80% aller Kinder, die an Krebs erkranken, geheilt werden und haben dann noch fast ihr ganzes Leben vor sich. Seit längerem weiß man jedoch, dass mehr als zwei Drittel dieser Langzeitüberlebenden Jahre bis Jahrzehnte später neue Erkrankungen entwickeln. Diese Spätfolgen treten als Folge der damaligen Therapie auf und beeinflussen die Gesundheit sowie die Lebenserwartung dieser jungen Menschen. Eine rechtzeitige Diagnose und Behandlung sind besonders wichtig, um die Prognose dieser neuen Erkrankungen zu verbessern. Bei Patienten, die sich in einer regulären Langzeitnachsorge befinden, können Spätfolgen früher entdeckt, Morbidität und Mortalität reduziert und Krankenhausaufenthalte verringert werden.
Mit welchen schwerwiegenden Folgeerkrankungen müssen ehemalige Krebspatienten rechnen?
Gebauer: Spätfolgen können verschiedene Organsysteme betreffen und sich zum Beispiel als leicht behandelbare Hypothyreose oder auch als schwere Folgeerkrankungen wie eine Kardiomyopathie oder eine neue Krebserkrankung (Sekundärneoplasie) manifestieren. Untersuchungen an Zehntausenden Langzeitüberlebenden sowohl in Amerika als auch in verschiedenen europäischen Ländern konnten das breite
Spektrum möglicher Spätfolgen, in Abhängigkeit von der erhaltenen onkologischen Therapie, nachweisen. Diese Ergebnisse wurden auch für Deutschland bestätigt – bisher allerdings nur an kleineren Kollektiven.
Warum wissen Patienten und auch Ärzte nur relativ wenig über diese Risiken?
Gebauer: Die akuten Komplikationen einer onkologischen Behandlung bilden sich nach Abschluss der Behandlung häufig zurück, auch wenn einige Überlebende von persistierenden Gesundheitseinschränkungen betroffen sein können. Spätfolgen allerdings treten mit deutlichem Abstand zu der damaligen Behandlung auf und unterscheiden sich in ihrem Spektrum sehr von Akutkomplikationen. Oft sind die Patientinnen und Patienten zum Zeitpunkt des ersten Auftretens von Spätfolgen nicht mehr in regelmäßiger onkologischer Behandlung und der Zusammenhang zur damaligen Therapie ist nicht für jeden Behandler direkt erkennbar. Viele Ärzte betreuen nur einzelne oder wenige Langzeitüberlebende nach Krebs im Kindesalter und sind daher mit den spezifischen Vorsorgeempfehlungen nicht immer vertraut. Mit dem zunehmenden Anteil an Langzeitüberlebenden weltweit wird es allerdings immer wichtiger, dass das Wissen über Spätfolgen nach Krebs sowie über die vorhandenen Versorgungsangebote verbreitet wird.
Wie lässt sich dieses Informationsdefizit beheben?
Gebauer: Wir setzen bereits früh an und versuchen im Rahmen der Lehrveranstaltungen während des Medizinstudiums immer dort, wo es passt, Spätfolgen nach Krebs vorzustellen und die angehenden Kolleginnen und Kollegen im Hinblick hierauf zu schulen. Darüber hinaus führen wir regelmäßige Fortbildungsveranstaltungen durch und haben uns nun in einem deutschlandweiten Nachsorgenetzwerk mit zwölf anderen Universitätskliniken zusammengeschlossen, um diesem Thema mehr Gewicht zu verleihen. Außerdem haben wir eine App für ehemalige Patienten mit Informationen zur Nachsorge und der Möglichkeit, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen, entwickelt und einen kurzen Videoclip zur Aufklärung erstellt, der in einigen Kinos gezeigt wurde. Letztlich sind es manchmal auch die Langzeitüberlebenden selbst, die ihre Ärzte mit diesem Thema konfrontieren.
Welche Maßnahmen werden in diesem Zusammenhang in Schleswig-Holstein ergriffen?
Gebauer: In Schleswig-Holstein haben wir in den vergangenen Jahren verschiedene Fortbildungsveranstaltungen, hauptsächlich in Lübeck, aber auch in Kiel sowohl für Betroffene als auch für Ärzte
durchgeführt. Vor einigen Jahren fand das Treffen des europäischen Nachsorgenetzwerkes PanCare in Lübeck statt. Zudem ist eine spezielle Homepage für Schleswig-Holstein mit Informationen zur Langzeitnachsorge und der Möglichkeit, eine Videoberatung in Anspruch zu nehmen, kürzlich fertiggestellt worden. Im ärztlichen Bereich der neuen Website www.langzeitnachsorge-sh.de werden Fortbildungen in Präsenz und Online sowie Kontaktmöglichkeiten angeboten.
Welche Rolle spielt hier die Nachsorgesprechstunde in Lübeck?
Gebauer: Seit 2014 haben wir am UKSH in Lübeck eine interdisziplinäre Nachsorgesprechstunde für ehemals krebskranke Kinder und Jugendliche, die erwachsen sind. In dieser Sprechstunde versorgen wir rund 200 Patientinnen und Patienten pro Jahr und übernehmen regelhaft im Rahmen der Transition alle Patienten ab dem 19. Lebensjahr aus den Kinderkliniken in Kiel und Lübeck. In unserem über 20-köpfigen Nachsorgeteam stehen wir bei ärztlichen, aber auch psychosozialen Fragestellungen jederzeit zur Verfügung.
Was ist Ihre persönliche Motivation, dieses Thema in den Fokus Ihrer Arbeit zu stellen?
Gebauer: Eine meiner ersten Aufgaben als Assistenzärztin war es, die Nachsorgesprechstunde in Lübeck mit zu initiieren und zu begleiten. Damals wusste ich kaum etwas über Spätfolgen nach Krebs und musste mich in dieses Thema erst einarbeiten. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den verschiedenen Fachdisziplinen und Professionen – neben Sozialarbeitern und Psychoonkologen gehören auch Sporttherapeuten und Wissenschaftler fest zu unserem Nachsorgeteam – sowie die internationalen Kooperationen haben mir von Anfang an viel Spaß gemacht. Am meisten freut es mich allerdings, junge Erwachsene in der spannenden Phase des Selbstständig Werdens, der beruflichen Ausbildung und Familiengründung zu begleiten und ihnen dabei zu helfen, alle gesundheitlichen Hürden und Herausforderungen möglichst gut meistern zu können. Das gehört mit zu den schönsten Erfahrungen in meinem beruflichen Leben.
Was verbirgt sich hinter dem Akronym LE-Na?
Gebauer: LE-Na steht für „Evaluation und Implementierung einer multidisziplinären, standardisierten, leitliniengerechten Langzeitnachsorge für heute Erwachsene, ehemals krebskranke Kinder und Jugendliche, in Deutschland – Eine prospektive, multizentrische, bundesweite Versorgungsstudie im Nachsorgenetzwerk“. In diesem auf fünf Jahre angelegten Projekt sollen deutschlandweit 5.000 Langzeitüberlebende, die bisher keine Nachsorge in Anspruch nehmen, über ihr Risiko für Spätfolgen aufgeklärt und in die Nachsorgesprechstunden eingeladen werden. Die multizentrische Studie wird von Lübeck aus koordiniert und von Prof. Thorsten Langer aus der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin und mir geleitet.
Welche Ziele wollen Sie mit dem übergreifenden Projekt erreichen?
Gebauer: Insbesondere in den 1980er- und 1990er-Jahren wusste man kaum etwas über Spätfolgen und hat die Patienten damals daher auch nicht über die Empfehlung zur Langzeitnachsorge aufgeklärt. Mit LE-Na soll der Anteil der Langzeitüberlebenden, die sich in Deutschland in einer regulären Nachsorge befinden, mindestens verfünffacht und die Zufriedenheit mit dem Versorgungsangebot und die Auswirkungen der Nachsorge auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität und Selbstwirksamkeit prospektiv evaluiert werden. Ergänzend wird durch eine Dokumentation der chronischen Erkrankungen aller Probanden in eine deutschlandweit erste spezifische Nachsorgedatenbank eine Nachsorgekohorte erstellt, durch die das Auftreten von Spätfolgen erstmals auch für Deutschland an einem großen Kollektiv prospektiv erfasst werden kann. Hierbei werden wir durch das IT Center for Clinical Research der Uni Lübeck und durch das Institut für Medizinische Biometrie und Statistik in Lübeck tatkräftig unterstützt. Durch die Gründung eines Nachsorgenetzwerkes aus allen in Deutschland in der Nachsorge aktiven Unikliniken erhoffen wir uns zudem die Möglichkeit, das Thema einer breiteren Öffentlichkeit vertraut zu machen.
Vielen Dank für das Gespräch.