Anne Marcic

Polioviren

Das RKI berichtete Ende 2024 von nachgewiesenen Polioviren im Abwasser in mehreren deutschen Regionen. Wie dieser Nachweis einzuordnen ist und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, beantwortet Dr. Anne Marcic aus dem Vorstand des Landesverbandes der Ärztinnen und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) im Interview mit Dirk Schnack.

Abwasseruntersuchungen ermöglichen frühe Hinweise auf eine mögliche Poliovirus-Zirkulation in der Bevölkerung. Seit Mai 2021 wird im Rahmen des Forschungsprojekts „PIA“ (Polioviren im Abwasser) das Abwasser an einigen Standorten in Deutschland auf Polioviren untersucht. An PIA sind das Nationale Referenzzentrum für Poliomyelitis und Enteroviren (NRZ PE), das Umweltbundesamt und weitere Kooperationspartner beteiligt. Ein entsprechender Nachweis bedeutet, dass es im Einzugsgebiet des Klärwerks Menschen gibt, die von Schluckimpfung abgeleitete Polioviren ausscheiden. Dies war laut Mitteilung des Robert Koch-Instituts (RKI) vom Dezember 2024 an mehreren Standorten in Deutschland, darunter auch Hamburg, der Fall.

Wie ist der vom RKI berichtete Nachweis einzuordnen?
Dr. Anne Marcic: Zunächst einmal ist es ein Hinweis darauf, dass zuvor mit Lebendimpfstoff/oraler Poliovakzine (OPV) geimpfte Personen das Virus ausscheiden. Da in Deutschland seit 1998 inaktivierte Poliovakzine (IPV) verwendet wird, spricht der Nachweis für einen Import aus Regionen, in denen noch oraler Impfstoff verabreicht wird. Der Nachweis an mehreren Orten in verschiedenen Regionen Deutschlands spricht für eine Ausscheidung durch mehrere Personen, kann aber auch auf eine Zirkulation im Einzugsgebiet der jeweiligen Kläranlage hinweisen.
Von den ausgeschiedenen Viren kann insofern ein Risiko ausgehen, als die abgeschwächten Impfviren durch Rückmutation wieder pathogen werden können und bei Übertragung auf nicht-immunisierte Personen eine Poliomyelitis auslösen können.

Müssen wir davon ausgehen, dass es auch in Schleswig-Holstein Menschen gibt, die Polioviren ausscheiden?
Marcic: Überall, wo Menschen leben, die kürzlich mit OPV geimpft wurden, kann es Ausscheider geben. Also auch in Schleswig-Holstein.

Nicht oder nicht vollständig geimpfte Menschen, die sich mit cVDPV infizieren, können in seltenen Fällen an Poliomyelitis erkranken. Vereinzelte cVDPV-Fälle unter nicht ausreichend geimpften Menschen wären also möglich. Gibt es schon Verdachtsfälle oder sogar bestätigte Erkrankungs­fälle?
Marcic: Bisher sind noch keine Verdachts- oder Erkrankungsfälle bekannt. Bei der Risikobewertung ist zu beachten, dass eine symptomatische Poliomyelitis nur bei etwa 0,5 % der Infizierten und ungeschützten Personen auftritt und eine Zirkulation von Polioviren in der Bevölkerung lange unentdeckt bleiben kann. Wenn also ein symptomatisch infizierter Fall bekannt ist, muss es ca. 200 weitere, nicht-symptomatische Fälle geben. Daher wird aufgrund der Nachweise vor Auftreten eines Falls zur Kontrolle des Impfschutzes aufgerufen.

Welche Maßnahmen müssen/können aktuell als Reaktion auf den Nachweis eingeleitet werden?
Marcic: Ziel ist es, die Bevölkerung durch einen vollständigen Impfschutz mit IPV vor einer Infektion zu schützen. Bestehende Impflücken sollen geschlossen werden. Kinder sollen früh und vollständig gemäß STIKO-Empfehlung geimpft werden, d.h. Säuglinge im Alter von 2, 4 und 11 Monaten. Alle Kinder und Jugendlichen sollen mit 9–16 Jahren eine Auffrischimpfung erhalten. Auch bei Erwachsenen soll der Impfschutz auf Vollständigkeit überprüft werden. Das RKI hat hierzu hilfreiche Flussschemata auf seiner Internetseite veröffentlicht: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/impfen_node.html

  • Überprüfung des Impfstatus bei Kleinkindern
  • Überprüfung des Impfstatus bei Jugendlichen
  • Überprüfung des Impfstatus bei Erwachsenen

Das RKI hat über den Nachweis berichtet, in der breiten Öffentlichkeit wird davon aber kaum Notiz genommen. Was empfehlen Sie, wie für das Thema sensibilisiert werden sollte?
Marcic: Eine Information der breiten Öffentlichkeit ist eine Gratwanderung zwischen Sensibilisierung und Panikmache. Die Polioimpfung ist eine Standardimpfung. Es kommt erst einmal darauf an, dass das Thema in der Fachöffentlichkeit Beachtung findet. Alle, die zur Vervollständigung eines Impfschutzes beitragen können, sind aufgerufen, Impflücken zu schließen und, sofern erforderlich, diese Standardimpfung nun „anlassbezogen“ nachzuholen.

Was kann der Öffentliche Gesundheitsdienst tun?
Marcic: Der ÖGD beteiligt sich im Rahmen seiner regelhaften Impfsprechstunden an der Schließung von Impflücken und erreicht durch niedrigschwellige Angebote auch Personen, die das Regelsystem nicht nutzen. Außerdem sind Aufklärung über Infektionsrisiken und Impfberatung eine zentrale Aufgabe des ÖGD.

Was kann jede(r) einzelne tun, um sich zu schützen?
Marcic: Wir sprechen über eine Standardimpfung. Insofern ist jeder geschützt, die/der einen altersgerechten Impfschutz hat. Also: Den Impfpass kontrollieren (lassen) und den Impfschutz vervollständigen (lassen). Eltern sind immer gut beraten, ihre Kinder altersgerecht und zeitgerecht impfen zu lassen.

Sollte doch einmal ein Verdachtsfall auftreten, welche Maßnahmen im medizinischen Bereich sind neben dem Impfschutz noch angezeigt?
Marcic: Neben der Impfprävention ist die Einhaltung von Hygienemaßnahmen, insbesondere einer wirksamen Händehygiene, wichtig. Hygiene und Impfungen sind immer sich ergänzende Maßnahmen und können sich nicht gegenseitig ersetzen.
Um eine wirksame Händedesinfektion gegen unbehüllte Viren – z.B. Poliovirus – gewährleisten zu können, müssen ethanolbasierte Händedesinfektionsmittel eingesetzt werden. Auch wenn die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) eine Einstufung von Ethanol als CMR (karzinogen, mutagen, reproduktionstoxisch) verfolgt, ist die Anwendung ethanolbasierter Händedesinfektionsmittel zur Wirksamkeit gegen unbehüllte Viren bei gegebener Indikation unverzichtbar. Es ist bekannt, dass die durch Händedesinfektion aufgenommenen Mengen von Ethanol unterhalb toxikologisch relevanter Konzentrationen liegen. Insofern ist die Anwendung erforderlich und unbedenklich.
Vielen Dank für das Gespräch.