Domagoj Schunk

Gewalt

Die einen kommen, um Hilfe zu bekommen, die anderen leisten diese Hilfe. Dennoch erfahren die Hilfe­leistenden zunehmend Aggressionen, Pöbeleien und manchmal auch körperliche Gewalt durch Patienten oder deren Angehörige. „Die wollen doch etwas von uns“, sagt Dr. Domagoj Schunk. Der Leiter der Zentralen Notaufnahme (ZNA) am UKSH in Kiel hat in den vergangenen Jahren eine Zunahme des aggressiven Verhaltens wahrgenommen: „Das ist definitiv mehr geworden“, sagt er.

Wie stark das Thema aktuell Ärztinnen und Ärzte in Schleswig-Holstein betrifft, zeigt eine Umfrage der Ärztekammer Schleswig-Holstein. Bis zum 22. Januar hatten sich mehr als 1.700 Mitglieder beteiligt. 46 % von ihnen gab an, dass Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte in den vergangenen drei Jahren zugenommen habe, eine Abnahme nimmt nur 1 % wahr, 26 % schätzt sie als gleichbleibend ein. Persönlich ist fast jede oder jeder Zweite (49 %) schon einmal im ärztlichen Alltag von Gewalt durch Patienten betroffen gewesen. Nur 30 % der Teilnehmenden kennt keine Kollegin oder keinen Kollegen, der oder die schon einmal betroffen war. 46 % kennen ein bis drei Kollegen, viele aber auch deutlich mehr. 

In der Mehrzahl der Fälle (54 %) ging es um verbale Gewalt, also zum Beispiel um Drohungen, bei jedem dritten Fall (32 %) um körperliche Angriffe. Fast, aber nicht immer, gelang es den befragten Ärztinnen und Ärzten, sich zur Wehr zu setzen. In 7 % der Fälle gaben die Teilnehmenden aber an, dass ihnen Mittel wie Abstand halten oder um Hilfe zu rufen, nicht möglich war. In jedem dritten Fall schalteten die Betroffenen oder ihr Arbeitgeber die Polizei ein.
Die Antworten auf die Frage nach persönlichen Folgen geben ebenfalls zu denken: 38 % gab an, dass der gewalttätige Vorfall eine Verhaltensveränderung nach sich gezogen hat. Diese äußere sich im distanzierten Umgang mit Patienten und weniger Empathie während der Behandlung. Jede zehnte Ärztin oder Arzt, denen Gewalt durch Patienten widerfahren ist, hatte körperliche Folgen wie zum Beispiel Biss- oder Schnittwunden oder Prellungen. 15 % leiden unter psychischen Folgen wie zum Beispiel Albträumen, Schlafstörungen, Panikattacken oder Depressionen und 5 % benötigen eine Therapie, um das Erlebte zu verarbeiten. 

„Diese Ergebnisse sind gravierend. Neben den Betroffenen selbst leidet auch das Verhältnis zu den Patienten. Arbeitgeber im Gesundheitswesen müssen ihre Beschäftigten besser schützen“, fordert Kammerpräsident Prof. Henrik Herrmann als Reaktion auf diese Ergebnisse. 

Der Ärztekammer ist das Problem auch aus persönlichen Gesprächen bekannt. Die Vorfälle selbst melden die Betroffenen der Kammer in aller Regel aber nicht – auch deshalb hat die Ärztekammer die Mitglieder befragt. Laut Umfrage hat fast die Hälfte der Praxen und Krankenhäuser (49 %) aufgrund der gewalttätigen Vorfälle Vorkehrungen getroffen und Notfallknöpfe installiert, Fluchtwege durch Umbauten geschaffen, spitze Gegenstände aus Untersuchungsräumen entfernt, Deeskalationstrainings mit den Mitarbeitenden durchgeführt oder einen Sicherheitsdienst beschäftigt. Eine weitere Folge ist, dass Untersuchungen nicht von einer Person allein durchgeführt werden. Teilweise werden auch Hausverbote für Patienten erteilt.
Einen Grund für die gestiegene Gewaltbereitschaft sehen viele Ärztinnen und Ärzte in einem gestiegenen Anspruchsdenken und einer übersteigerten Erwartungshaltung von Patientinnen und Patienten, aber auch in einer allgemein erhöhten Gewaltbereitschaft, die sich in Respektlosigkeit äußert. Häufig gehe es dabei um zeitnahe Termine, Rezepte oder bestimmte Untersuchungen, die eingefordert werden. Einen weiteren Grund sehen Ärztinnen und Ärzte in der Unzufriedenheit der Patienten mit der Gesundheitspolitik.

Was wäre erforderlich, damit sich die Situation verbessert? Die Befragten wünschen sich mehr Personal, um mehr Zeit für die Patientenversorgung zu haben, aber auch strengere Gesetze zur Ahndung von Gewalttaten und die Beschleunigung der Bearbeitung von Beschwerden. Weitere Wünsche sind Aufklärungskampagnen für Patienten über angemessenes Verhalten gegenüber dem medizinischen Personal und Trainings für Gewaltprävention und Deeskalation für das medizinische Personal. 

Wie sieht es vor Ort konkret aus? In der ZNA des UKSH herrscht die stärkste Belastung mit dem größten Aggressionspotenzial nach Angaben des stellvertretenden Pflegedienstleiters Thomas Leitow an Silvester und zur Kieler Woche – „alkoholisierte Nachtschwärmer“ haben eine geringere Hemmschwelle. Betroffen sei das komplette Personal, das am Patienten arbeitet. 

Andere reagieren auch nüchtern aggressiv, unabhängig von besonderen Anlässen. Dr. Domagoj Schunk hat es erlebt, dass er von einem Menschen, der unberechtigt durch die ZNA in Kiel lief, angepöbelt wurde. Die ZNA ist neben dem Personal ausdrücklich nur Patienten und in begründeten Fällen einzelnen Angehörigen zugänglich. Dies ist am Eingang unmissverständlich klargestellt. Manchmal schaffen es Familienangehörige dennoch, durch kurz geöffnete Türen zu schlüpfen. Sie halten sich unberechtigt dort auf – und werden auf Nachfrage aggressiv. „Viele Menschen ignorieren diese Hinweise“, stellen Schunk und Leitow fest. Das UKSH informiert in den Wartezimmern der ZNA über den Patientenandrang, gibt die Zahl der gerade behandelten Patienten nach Dringlichkeitsstufen an, damit für jeden ersichtlich ist, warum er oder sein Angehöriger noch warten muss. Dennoch werden viele Menschen ausfällig.
Das Problem ist längst bundesweit bekannt. Der Asklepios Konzern reagierte jüngst in Hamburg mit der Kampagne „HaltzuGewalt“. Der Klinikkonzern setzte damit ein Zeichen, dass Übergriffe nicht toleriert werden und stellte klar: 

  • Wir erwarten Respekt für die Arbeit unserer Kolleginnen und Kollegen.
  • Jede Form der Gewalt gegenüber unseren Kolleginnen und Kollegen ist nicht hinnehmbar.
  • Wir treten entschieden, gemeinsam und konsequent gegen jede Form von Gewalt gegen Beschäftigte ein.
  • Wir wollen und werden in unseren Strukturen das Thema vertrauensvoll und systematisch angehen.
  • Wir wollen die Gesellschaft gemeinsam sensibilisieren.


Eine andere Aktion heißt „Respekt für Retter“, die für respektvollen Einsatz gegenüber Einsatzkräften in den Kreisen Ostholstein und Stormarn wirbt. Neben Institutionen, Arbeitgebern und Kreisen haben die Medien das Thema entdeckt, auch in Schleswig-Holstein wurde breit berichtet. 
Viele Menschen, die darüber lesen und hören, schütteln den Kopf über die Verrohung. Nur: In den Brennpunkten ändert das zunächst nicht viel. Schunks Erfahrung lautet: „Es ist jeden Tag irgendetwas.“ Er nimmt auch wahr, dass kulturelle Unterschiede die Situation oft verschärfen. Menschen aus anderen Kulturkreisen seien es gewohnt, in Gruppen zu erscheinen. Ihnen klarzumachen, dass das in einer ZNA nicht funktionieren kann, führt nicht immer zu Aggressionen – aber immer kostet es Zeit. Andere Menschen kommen dem Personal mit dem Vorwurf, wegen ihrer Herkunft bei der Wartezeit benachteiligt zu werden. Der in Kroatien geborene Schunk hat mit seiner Herkunft gegen solche Anwürfe ein Argument, dass die meisten schnell verstummen lässt.  

Gelassen reagiert er inzwischen auf die Drohung mit Anzeigen. „Diese Drohungen zähle ich gar nicht mehr. Ich sage dann stets: Das ist Ihr gutes Recht“, sagt Schunk. Eine andere Form der Kritik ist bei ihm zielführender. Wenn sich jemand über die Beschwerdestelle des UKSH meldet und über einen Vorfall in der ZNA berichtet, bekommt Schunk diesen Fall vorgelegt. Er ruft die Menschen dann an und versucht, zu klären und zu schlichten – oft erfolgreich. „Beide Seiten reflektieren dann, was passiert ist und lernen im besten Fall daraus.“

Trotz der Negativerlebnisse erleben Schunk und seine Kollegen und Kolleginnen eine große Mehrheit unter den rund jährlich 40.000 ZNA-Patienten und ihren Angehörigen, die friedlich und dankbar sind. Schunk schätzt, dass die Zahl der körperlichen Angriffe im Promillebereich liegt. Verbale Gewalt schätzt er auf rund 3 %. Ähnlich fällt die Wahrnehmung im Heider Westküstenklinikum aus. In der Somatik seien körperliche Angriffe selten – 2024 wurden dort außerhalb der Psychiatrie acht Übergriffe oder Angriffe auf Mitarbeitende registriert, ohne Unterscheidung nach Berufsgruppen.

„Die Zahlen zeigen, dass es glücklicherweise mit den allermeisten Menschen bei uns im Krankenhaus keine Probleme gibt. Gleichwohl nehmen wir unabhängig von den uns gemeldeten Fällen eine steigende Aggressivität bei Patienten und auch deren Angehörigen im Umgang mit unseren Mitarbeitenden wahr“, teilte das WKK auf Anfrage des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblattes mit. Der Umgangston sei mit der Corona-Pandemie rauer und fordernder geworden. Und: Neben Beleidigungen gibt es auch in Heide Bedrohungssituationen, die von den Mitarbeitenden nicht als Übergriff gemeldet werden, aber dennoch belastend sind. Konfliktreich sind laut WKK Bereiche, in denen es zu einem Erstkontakt kommt, etwa am Empfang oder in der Notaufnahme. Wartezeiten oder fachlich begründete Entscheidungen würden nicht toleriert und zur Durchsetzung des eigenen Willens in unangemessener Form infrage gestellt.

Losgelöst davon sind Angriffe zu sehen, die im Zusammenhang mit der Erkrankung stehen. Bei Menschen mit einer demenziellen Erkrankung kann es zu einem hyperaktiven Delir kommen, in dem es zu aggressiven Verhalten kommt. „Diese Angriffe werden in der Regel nicht gemeldet und registriert, nehmen aber nach unserem Eindruck infolge der alternden Gesellschaft zu“, so das WKK. Zum Arbeitsalltag gehöre der Umgang mit gewalttätigen Patienten in der Psychiatrie. Hier registrierte das WKK 2024 zehn Fälle, in denen Mitarbeitende bei ihrer Arbeit durch gewalttätige Patientinnen und Patienten verletzt wurden. Zum Schutz der Mitarbeitenden hat das WKK in der Psychiatrie ein spezielles Notrufsystem installiert und „pflegt eine sehr gute Zusammenarbeit mit der Polizei, die generell bei Hilfeersuchen durch uns schnell stark präsent ist.“ 

Das WKK-Psychiatriepersonal wird schon in der Ausbildung für entsprechende Situationen geschult. Für alle anderen gibt es spezielle Kommunikationsseminare und Angebote, um die Resilienz der Mitarbeitenden zu stärken und Stress besser bewältigen zu können. Und bei sexueller Gewalt oder Belästigung? „Hier verfolgen wir eine Null-Toleranz-Strategie“, so das WKK. Mit dem Betriebsrat wurde eine Vereinbarung abgeschlossen, in dem das Vorgehen im Falle sexueller Übergriffe geregelt ist.

Im Klinikum Itzehoe sind Fälle sexueller Gewalt nicht bekannt und die Fälle unkontrollierter Verhaltensweisen selten. Genaue Zahlen gibt es nicht, weil keine Statistik geführt wird. Dennoch gilt auch für Itzehoe: „Grundsätzlich merken wir eine zunehmend fordernde Haltung, gerade bei den Angehörigen.“ Und diese Haltung kann in schwierige, zum Teil bedrohliche Situationen münden. Im ersten Schritt versuchen die Mitarbeitenden zu deeskalieren, vorbereitet durch entsprechende Seminare. Und wenn das nicht hilft? Als weitere Mittel stehen Verweise auf das Vorliegen einer Straftat und auf das Hausrecht zur Verfügung, die Einschaltung der Polizei oder der Security, die allerdings nur in der Nacht im Hause ist.
So berichteten weitere ausgewählte Kliniken aus Schleswig-Holstein von ihren Erfahrungen zum Thema Gewalt:


Sana Kliniken Lübeck

Haben Ihre ärztlichen Mitarbeitenden verbale oder körperliche Übergriffe durch Patienten oder Angehörige im Jahr 2024 erlebt?
Gesprächen mit unseren Mitarbeitenden zufolge gibt es diese Tendenzen auch an den Sana Kliniken Lübeck, diese beziehen sich jedoch überwiegend auf verbale Übergriffe durch Patienten oder Angehörige. Diese sind leider schon fast zur Normalität im Alltag ärztlicher und auch pflegerisch tätiger Mitarbeiter geworden. Körperliche Übergriffe gehen dabei überwiegend von dementen, deliranten oder anders krankheits- oder suchtindiziert bewusstseinseingeschränkten Personen aus, andere schwere Vorfälle sind bei uns erfreulicherweise eine große Ausnahme.
 
Wird dies in Ihrem Haus registriert/dokumentiert? Gibt es eine Statistik dazu?
Zur Dokumentation von sicherheitsrelevanten Vorfällen steht auf dem Desktop jedes PC an den Sana Kliniken Lübeck der Meldebogen: „Gewalttätige Übergriffe und sexuelle Belästigung“ zur Verfügung. Dieser ermöglicht eine standardisierte Erfassung und Analyse von Vorfällen, um zukünftige Sicherheitsmaßnahmen gezielt zu verbessern.
Leider wird diese Möglichkeit der Meldung kaum genutzt, sodass uns keine valide Zahlengrundlage für Übergriffe vorliegt. Ein Grund hierfür kann sein, dass insbesondere verbale Gewalt häufig beiläufig geschieht und im Rahmen der eigenen Rolle von den betroffenen Mitarbeitenden eigenverantwortlich innerlich bearbeitet wird. Bei größeren Vorfällen/Drohungen finden zudem Teamgespräche oder bei Bedarf Supervisionen statt.

Wie hat sich aus Ihrer Sicht die Einstellung der Patienten/Angehörigen gegenüber dem ärztlichen Personal verändert – ist eine aggressivere Stimmung zu spüren?
Ja, es ist eine insgesamt aggressivere Stimmung wahrzunehmen. Dafür gibt es verschiedene Auslöser:

  • Zunahme psychosozialer Notfälle (u.a. Alkohol-/Drogenkonsum, Verwahrlosung, Armut im Alter)
  • Vorliegen von psychiatrischen, neurologischen oder mit Schmerz einhergehende Erkrankungen
  • Älteres Patientenklientel mit Gebrechlichkeit (Frailty) und Gefahr der Delir-Entwicklung
  • Angst, Anspannung, Sorge und Ungewissheit bei Patienten und Angehörigen
  • Lange Wartezeiten bei überfüllten Notaufnahmen (Crowding, Overcrowding, kritisches Overcrowding)
  • Abend-/Nachtstunden
  • Zeit- und Handlungsdruck des Personals und dadurch Abnahme der Resilienz

Die in der Gesellschaft zu spürende allgemeine Unzufriedenheit spiegelt sich auch im Umgang mit ärztlichem Personal wider. Patienten und Angehörige sind ungeduldiger, haben zunehmend weniger Verständnis für längere Wartezeiten insbesondere in den überlaufenen Notaufnahmen. So kommt es auch bei uns an den Sana Kliniken Lübeck immer häufiger zu fordernden Diskussionen, die in den allermeisten Fällen aber glimpflich geklärt werden können.
 
Was passiert, wenn Mitarbeitende entsprechende Übergriffe erfahren: Wird dies der Polizei gemeldet oder werden andere Wege eingeschlagen? Falls ja: welche?
Das Sicherheitskonzept unserer Klinik sieht ein fallabhängiges Stufenkonzept vor.
Bei Gefahr für Leib und Leben wird der hausinterne Wachdienst und das zuständige Polizeirevier umgehend aktiviert, ansonsten versuchen Personal und Wachdienst die Konfliktsituation zu deeskalieren.
Die Vorfälle werden auf einem hausinternen Meldebogen dokumentiert und abteilungsintern oder –übergreifend nachbearbeitet.
 
Gibt es spezielle Maßnahmen, mit denen Ihr Haus die Mitarbeitenden vor entsprechenden Übergriffen schützt?
Maßnahmen wie Sicherheits- und Deeskalationstraining für unsere Mitarbeitenden, Zutrittsbeschränkungen für Unbefugte über Türschließsysteme mit Transponder bzw. Tür-PIN, Videoüberwachung bspw. in Eingangs- und Wartebereiche, konsequente Regelungen zur Erteilung und Durchsetzung von Hausverboten, die Entwicklung und Implementierung von Notfallplänen sowie regelmäßige Übungen zur Vorbereitung auf verschiedene Bedrohungsszenarien, die regelmäßige Information und Einbindung der Mitarbeitenden in Sicherheitsfragen (z.B. durch Sicherheitsbriefings und Aushänge) sowie ein nächtlicher Sicherheitsdienst tragen zum Schutze unserer Mitarbeitenden bei.
 
Haben Ärztinnen in Ihrem Haus auch sexuelle Übergriffe erlebt?
Diese Form der Übergriffe ist uns nicht bekannt.


Städtisches KH Kiel

Haben Ihre ärztlichen Mitarbeitenden verbale oder körperliche Übergriffe durch Patienten oder Angehörige im Jahr 2024 erlebt?
Ärzte und Ärztinnen sind wie sämtliche andere Berufsgruppen von verbalen Übergriffen betroffen. Körperliche An- und Übergriffe spielen eher eine untergeordnete Rolle.

Wird dies in Ihrem Haus registriert/dokumentiert? Gibt es eine Statistik dazu?
Bisher wurden vor allem körperliche Übergriffe im Rahmen der DGUV-Standards dokumentiert, verbale Übergriffe dagegen häufig gar nicht oder innerhalb einzelner Abteilungen. Eine einheitliche hausweite Dokumentation von Vorfällen verbaler, physischer oder sexualisierter Gewalt ist vorbereitet und wird im kommenden Jahr eingeführt.

Wie hat sich aus Ihrer Sicht die Einstellung der Patienten/Angehörigen gegenüber dem ärztlichen Personal verändert – ist eine aggressivere Stimmung zu spüren?
Die Erwartungs- und Anspruchshaltung vieler Patientinnen und Patienten hat sich geändert, das sich beispielsweise in einer verringerten Toleranzgrenze für längere Wartezeiten in der Notaufnahme zeigt. Insgesamt ist eine Zunahme aggressiver Verhaltensweisen zu beobachten.

Was passiert, wenn Mitarbeitende entsprechende Übergriffe erfahren: Wird dies der Polizei gemeldet oder werden andere Wege eingeschlagen? 
In bedrohlichen Situationen haben die Mitarbeitenden die Möglichkeit, sich innerhalb des Teams oder telefonisch kurzfristige Unterstützung zu holen. Gerade weibliches Personal kann – vor allem im Nachtdienst – männliche Kollegen zur Unterstützung hinzuholen. Je nach Vorfall werden auch Hausverbote erteilt. Zusätzlich gibt es einen Sicherheitsdienst. Bei akut bedrohlichen und/oder eskalierenden Situationen erfolgt ein direkter Kontakt zur Polizei, die in wenigen Minuten vor Ort ist. Für die Nachbearbeitung von gewaltorientierten Vorfällen stehen den Beschäftigten interne Ansprechpartner und eine externe Mitarbeiterberatung, die 24/7 erreichbar ist, zur Verfügung.

Gibt es spezielle Maßnahmen, mit denen Ihr Haus die Mitarbeitenden vor entsprechenden Übergriffen schützt? 
In den vergangenen Jahren gab es bereits punktuell Schulungen zur Prävention und Deeskalation. Diese werden im kommenden Jahr systematisiert und sukzessive jeder Station angeboten. Geplant ist zudem ein erweitertes Nachsorgekonzept, um im Falle gewaltorientierter Ereignisse den Mitarbeitenden intern weitere Hilfen zukommen lassen zu können.

Haben Ärztinnen in Ihrem Haus auch sexuelle Übergriffe erlebt?
Verbale oder sexuelle Übergriffe bzw. Anzüglichkeiten betreffen jede Berufsgruppe und kommen auch gegenüber Ärztinnen vor.


Regio Kliniken

Haben Ihre ärztlichen Mitarbeitenden verbale oder körperliche Übergriffe durch Patienten oder Angehörige im Jahr 2024 erlebt?
Verbale Gewalt erleben unsere Mitarbeitenden nahezu täglich, auch physische Angriffe kommen regelmäßig leider vor. Das betrifft allerdings vor allem das Pflegepersonal, die aufnehmenden administrativen Mitarbeitenden, aber auch unsere Ärzte und Ärztinnen. Teilweise handelt es sich dabei um Patientinnen und Patienten, die an Erkrankungen wie Demenz oder Verwirrung leiden und für ihr Handeln nicht oder nur bedingt verantwortlich gemacht werden können. Solche Situationen können wir in der Regel gut auffangen. Dazu Dr. Stefan Sudmann, Chefarzt des Zentrums für Notfall- und Akutmedizin (ZNA), Regio Kliniken: „Anders ist es bei bewusst gewalttätigem Verhalten. Das tolerieren wir nicht und setzen klare Grenzen – etwa durch begrenzte Zutritte oder Hausverbote.“

Wird dies in Ihrem Haus registriert/dokumentiert? Gibt es eine Statistik dazu?
In unseren Häusern stehen einfache, digitale Prozesse zur Verfügung, über die die Abteilung und die Geschäftsführung unkompliziert informiert werden können. Allerdings werden viele Übergriffe, insbesondere verbale oder leichtere körperliche, nur selten erfasst. Solche Vorfälle werden häufig direkt innerhalb der Teams besprochen. Eine Statistik hierzu liegt nicht vor.

Wie hat sich aus Ihrer Sicht die Einstellung der Patienten/Angehörigen gegenüber dem ärztlichen Personal verändert – ist eine aggressivere Stimmung zu spüren?
Unsere Mitarbeitenden berichten eindeutig, dass sich die Haltung einiger Patienten und Patientinnen und Angehörigen spürbar verändert hat. Der Umgangston ist schärfer geworden und das Vokabular wird zunehmend drastischer. Dazu Dr. Stefan Sudmann: „Die teils massiven Beleidigungen und Eskalationen zeigen leider deutlich, wie schnell die Toleranzgrenze bei manchen Menschen erreicht ist.“ 

Was passiert, wenn Mitarbeitende entsprechende Übergriffe erfahren: Wird dies der Polizei gemeldet oder werden andere Wege eingeschlagen? Falls ja: welche?
Wir schalten die Polizei ein, bzw. unterstützen bei einer Anzeige, wenn Personen zu Schaden gekommen sind, Mobiliar zerstört oder Dinge entwendet wurden.

Gibt es spezielle Maßnahmen, mit denen Ihr Haus die Mitarbeitenden vor entsprechenden Übergriffen schützt? 
Um die Sicherheit in den Kliniken sowohl für das Personal als auch für die Patientinnen und Patienten, insbesondere während der Nachtstunden, zu gewährleisten, besteht eine Security-Präsenz an beiden Standorten in Elmshorn und Pinneberg zwischen 22:00 und 05:30 Uhr. Aufgaben des Sicherheitsdienstes sind u.a. Rundgänge durchs Gebäude, Sicherung der Außentüren und ebenerdigen Fenster, die Absprache von Personen, die keine Mitarbeitenden sind und sich im Gebäude oder auf dem Gelände aufhalten, sowie auf Anfrage die Begleitung der Mitarbeitenden zu ihren Fahrzeugen. Zudem wird der Sicherheitsdienst in schwierigen Situationen hinzugezogen.  
Außerdem bieten die Regio Kliniken den Mitarbeitenden, neben Einzelgesprächen, einer Aufarbeitung von Gewaltsituationen im Team (z.B. Supervisionen) und anderen individuellen Angeboten, seit zwei Jahren das Deeskalations-Seminar „ProDeMa“ an. Diese Fortbildung richtete sich zunächst an die Mitarbeitenden der Klinik der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Seit einem Jahr ist es aber auch für die Mitarbeitenden der ZNA und der Intensivstationen an beiden Standorten offen. Während die Teilnahme für ZNA und Intensivstationen freiwillig ist, ist sie für alle Berufsgruppen in der Erwachsenen-, sowie auch Kinder- und Jugend-Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, von Therapeuten, Pflegefachkräften bis zu den Ärzten und Ärztinnen, verpflichtend. Die Schulung dauert drei Tage. 
Ziel ist es Gewalt, sowohl verbal als auch körperlich, zu vermeiden. Im Fokus steht die Prävention: Die Teilnehmenden lernen, wie Konflikte und angespannte Situationen frühzeitig erkannt und entschärft werden können, um eine Eskalation zu verhindern.
Gleichzeitig werden aber auch Strategien und Techniken vermittelt, um im Ernstfall sicher und professionell zu handeln und sich selbst zu schützen. Dazu gehören auch Befreiungsgriffe, die es ermöglichen, sich selbst im Ernstfall zu verteidigen. Alle zwei Jahre muss das Erlernte aufgefrischt werden. Die Schulungen werden von speziell geschulten Trainern und Trainerinnen durchgeführt. 
Zusätzlich werden im Rahmen der jährlichen Gesundheitstage und des betrieblichen Gesundheitsmanagements allen Mitarbeitenden der Regio Kliniken Selbstverteidigungskurse angeboten. Derzeit arbeiten wir außerdem an einem erweiterten Sicherheitskonzept, das wir im Frühjahr zum Abschluss bringen wollen.


Krankenhaus Reinbek

Haben Ihre ärztlichen Mitarbeitenden verbale oder körperliche Übergriffe durch Patienten oder Angehörige im Jahr 2024 erlebt? 
Gegenüber dem Schutzkonzept-Präventionsteam wurden im vergangenen Jahr nur zwei offizielle Meldungen gemacht über Vorkommnisse, an denen auch Ärzte beteiligt waren. Die Dunkelziffer wird weit höher sein (s. Punkt 2). Da die Meldungen der Schweigepflicht unterliegen, können wir die Art des Übergriffes nicht benennen.

Wird dies in Ihrem Haus registriert/dokumentiert? Gibt es eine Statistik dazu?
Die Mitarbeitenden sind aufgerufen, sämtliche Vorkommnisse verbaler, körperlicher und sexualisierter Gewalt an das Präventionsteam des Schutzkonzeptes zu melden. Das institutionelle Schutzkonzept wurde vor 6 Jahren im Haus implementiert. Alle Mitarbeitenden wurden über die Meldewege und die Ansprechpartner (Präventionskräfte) im Haus informiert, sie haben zweimal Flyer nach Hause geschickt bekommen und am Arbeitsplatz erhalten. Trotzdem fehlt noch eine selbstverständliche Meldekultur, obwohl eine Meldung von jedem Computer aus – auch anonym – leicht durchzuführen ist. Inoffiziell hört das Präventionsteam von Vorfällen, die nie von den Betroffenen gemeldet wurden. Das heißt, die Dunkelziffer ist wesentlich höher, obwohl immer wieder auf das Schutzkonzept hingewiesen wird. Unabhängig vom Schutzkonzept kann für Übergriffe, die nicht nur körperlich, sondern vielleicht auch psychisch belastend sein können, eine offizielle Meldung an unseren Betriebsarzt erfolgen und als Arbeitsunfall an die Berufsgenossenschaft, um eventuelle Behandlungen als Arbeitsunfall geltend machen zu können.

Wie hat sich aus Ihrer Sicht die Einstellung der Patienten/Angehörigen gegenüber dem ärztlichen Personal verändert – ist eine aggressivere Stimmung zu spüren? 
Patienten und Angehörige sind in den letzten Jahren fordernder geworden und sind teilweise sehr ausfallend, wenn die Wartezeiten in ihren Augen zu lang sind oder sie nicht das erhalten, was sie möchten.   
Die verbale Gewalt durch Schimpfworte und Beleidigungen hat deutlich zugenommen, auch gegenüber den Ärzten, vor allem in der ZNA. Früher waren eher Pflegekräfte betroffen, weil sie näher am Patienten waren oder weil die Patienten oder Angehörige Frust und Unmut über Wartezeiten am Anmeldetresen herausgelassen haben. In der Regel war es so: Wenn der Arzt oder die Ärztin den Behandlungsraum betrat, freuten sich auch die ausfallend gewordenen Patienten eher, dass sie jetzt dran sind. Aber wenn sie ihren Willen nicht erhalten, dann kann es zur Eskalation kommen, bis zu körperlicher Gewalt. Bespucken, Schubsen und Schlagen ist die Ausnahme, nimmt aber laut Aussage der Mitarbeitenden in unserer Notaufnahme zu.

Was passiert, wenn Mitarbeitende entsprechende Übergriffe erfahren: Wird dies der Polizei gemeldet oder werden andere Wege eingeschlagen? Falls ja: welche?
Wenn eine Situation eskaliert (körperliche Gewalt, massive Bedrohungen, Massenauflauf von aufgebrachten Angehörigen), rufen die Mitarbeitenden sofort die Polizei, die dann auch schnell erscheint und sich um die Renitenten kümmert und auch eine Anzeige aufnimmt. Einige Mitarbeitende schreiben auch Anzeigen im Nachhinein, wenn sie massiv belästigt wurden, damit die Patienten Konsequenzen spüren. Hierzu werden sie auch vom Präventionsteam Schutzkonzept ermutigt.
In den Abend- und Nachtstunden ist in unserer Notaufnahme immer jemand vom Sicherheitsdienst da, der für Personenschutz ausgebildet ist. Tagsüber wird versucht, durch unsere Präventionskräfte die Lage zu deeskalieren, diese suchen dann als Außenstehende das Gespräch. 

Gibt es spezielle Maßnahmen, mit denen Ihr Haus die Mitarbeitenden vor entsprechenden Übergriffen schützt?  
Der Sicherheitsdienst ist in der ZNA 19:30 bis 5:30 Uhr präsent. Die Kosten dafür trägt das Krankenhaus, diese werden leider nicht von den Kassen oder der Politik vergütet, obwohl Notaufnahmen auch so schon defizitär arbeiten. Wir prüfen gerade eine Ausweitung der Zeiten. In der Vergangenheit gab es für die Mitarbeitenden mit viel Patientenkontakt ein Deeskalationstraining. Für die Mitarbeitenden der ZNA wurde ein Selbstverteidigungskurs angeboten, der gut angenommen wurde. Da jedoch sehr wenig Fälle offiziell gemeldet werden und das St. Adolf-Stift im Hamburger Speckgürtel im Vergleich zu Krankenhäusern in Hotspots eine vergleichsweise harmlose Klientel hat, fehlt die objektive Grundlage, weitere Trainings anzubieten. Das Präventionsteam weist immer wieder daraufhin, dass das Melden jedes Vorfalls wichtig ist, um belastbare Zahlen zu bekommen und das wahre Ausmaß erfassen und dann Maßnahmen einleiten zu können.

Haben Ärztinnen in Ihrem Haus auch sexuelle Übergriffe erlebt?
Seit 6 Jahren gibt es ein institutionelles Schutzkonzept, bei dem solche Übergriffe ganz offiziell gemeldet werden können. Dem Präventionsteam ist kein sexueller Überbegriff bekannt, auch nicht gegenüber Pflegekräften. Auch hier weiß das Präventionsteam nur inoffiziell von Patienten, die (gewollt oder ungewollt) z.B. den Hintern von Pflegekräften berührt haben. Eine offizielle Meldung wurde aber leider nicht gemacht.

Gibt es dafür spezielle Schutzmaßnahmen? 
Seit 6 Jahren gibt es ein institutionelles Schutzkonzept, das explizit auch sexuelle Übergriffe von extern und intern durch Aufklärung vermeiden soll. Es wurden bereits 209 Mitarbeitende in einer eintägigen Fortbildung geschult, zunächst nur Leitungskräfte, im Ärztlichen Dienst also Chef- und Oberärztinnen und -ärzte, die für ihre Abteilung jeweils Gefahrensituationen benennen und reduzieren sollen. Mittelfristig soll die Präsenzschulung allen Mitarbeitenden zu Teil werden. Aktuell sind alle Mitarbeitenden verpflichtet, einmal jährlich eine Online-Schulung zur Prävention von (jeglicher) Gewalt zu absolvieren.

Dirk Schnack