Prof. Julia Holle

Rheumakongress mit breitem Themenspektrum

RHEUMA Innovationen, neue Leitlinien, Forschungsergebnisse und Fragen aus dem Versorgungsalltag: Der Deutsche Rheumatologiekongress 2023 in Leipzig bot ein breites Spektrum für Ärztinnen und Ärzte unterschiedlicher Schwerpunkte. Auch Expertinnen und Experten aus Schleswig-Holstein waren bei dem Kongress in Sachsen vor Ort.

 

Frauen ernähren sich gesünder, gehen öfter zum Arzt und nehmen häufiger Vorsorgeangebote in Anspruch als Männer. Dennoch werden rheumatische Erkrankungen bei Frauen deutlich später diagnostiziert, etwa bei der systemischen Sklerose erst ein Jahr nach männlichen Patienten. Und dass, obwohl sie häufiger an Rheuma leiden und eine höhere Krankheitslast beschreiben als Männer, wie eine aktuelle Überblicksstudie zu geschlechtsspezifischen Unterschieden bei der Diagnostik und Therapie von Rheumaerkrankungen (https://doi.org/10.1007/s00108-023-01484-3) gezeigt hat. 

Insbesondere an Kollagenosen und rheumatoider Arthritis (RA) erkranken mehr Frauen als Männer. Nur wenige entzündlich-rheumatische Erkrankungen, wie beispielsweise Morbus Behcet, betreffen in der Mehrzahl Männer. „Umso verwunderlicher erscheint es, dass Frauen im Durchschnitt deutlich später eine Diagnose erhalten“, sagt PD Dr. Uta Kiltz aus Herne. Mögliche Ursache dafür könnte sein, dass sich bei Männern früher Marker und Antikörper im Blut bilden, sich eher Schäden an Organen zeigen und diese deshalb früher Hinweise auf eine rheumatische Erkrankung geben. Hinzu komme, dass Frauen ein vielfältigeres Bild an Symptomen zeigen würden, was eine eindeutige Diagnose zusätzlich erschweren könne, erläuterte Kiltz. Diese Unterschiede ließen sich auf hormonelle, immunologische und (epi)genetische Unterschiede zurückführen. 
Eine kanadische Analyse offenbarte zudem, dass männliche Hausärzte unabhängig vom Geschlecht der Patienten später eine rheumatologische Überweisung veranlassten als ihre Kolleginnen. Folglich könne auch das Geschlecht der behandelnden Ärzte zu Unterschieden in der Versorgung beitragen, so die Oberärztin des Rheumazentrums Ruhrgebiet. Ob sich jedoch die Wirksamkeit von Medikamenten zwischen den Geschlechtern unterscheidet, sei noch ungeklärt, so Kiltz. Es gelte als erwiesen, dass immunsuppressive Therapien bei Frauen weniger dauerhaft wirken und diese im Vergleich zu Männern deutlich seltener das Therapieziel einer niedrigen Krankheitsaktivität erreichen. Möglicherweise, so Prof. Julia Holle aus Neumünster, müsse die Dosierung der Medikation bei Frauen und Männern künftig noch individueller angepasst werden, da Frauen aufgrund des höheren Körperfettanteils ein anderes Verteilungsvolumen haben. 

Weiteres Kongressthema: Eine gezielte medikamentöse Frühintervention bei Personen mit erhöhtem Risiko für die Entwicklung einer RA kann das Auftreten von Symptomen und Schäden an Gelenken möglicherweise verhindern oder zumindest verzögern. Allerdings sei es derzeit noch nicht möglich, diese Risikopatienten für eine Behandlung vor Krankheitsausbruch zuverlässig zu identifizieren, sagt Prof. Andrea Rubbert-Roth aus dem schweizerischen Kantonsspital St. Gallen. „Wir kennen zwar die Auslöser – etwa das Rauchen oder eine Feinstaubbelastung und wissen auch, dass sie Rheuma fördernde Faktoren im Blut verursachen. Wenn Betroffene zum Zeitpunkt der Messung keine muskuloskelettalen Beschwerden aufweisen, bedeutet der Nachweis aber nicht zwangsläufig, dass diese Personen später eine rheumatoide Arthritis entwickeln werden.“ 
In einer niederländischen Studie wurde der potenziell präventive Ansatz von Methotrexat (MTX) untersucht. Es wurde Patienten verabreicht, die unter nicht-entzündlichen Gelenkschmerzen litten. Zwar konnte MTX das Auftreten klinischer RA-Symptome nicht vollständig verhindern, jedoch in vielen Fällen den frühen Verlauf der Krankheit positiv beeinflussen. Noch deutlicher war der Effekt bei der Gabe des ebenfalls immunsuppressiv wirkenden Abatacept. Eine in Deutschland durchgeführte Studie zeigte, dass Abatacept signifikant seltener zur Entwicklung einer klinischen RA führte und entzündliche Veränderungen in bildgebenden Untersuchungen verringerte. Ein Jahr nach Ende der sechsmonatigen Therapie wurde eine RA nur bei 35 % der Abatacept-Patienten, jedoch bei 57 % der Placebo-Patienten beobachtet. „Gegenüber der Studie mit MTX waren hier Probanden eingeschlossen, die aufgrund mehrerer Faktoren ein deutlich erhöhtes Erkrankungsrisiko hatten, was dem Ergebnis große Aussagekraft verleiht“, resümierte Rubbert-Roth. 

Deutlich geworden ist beim Kongress, dass die Zahl der betroffenen Patienten in den vergangenen Jahren gestiegen ist, sich die Versorgungssituation jedoch nicht gebessert hat. Einer aktuellen Analyse des Deutschen Rheumaforschungszentrums in Berlin zufolge seien 2,2–3 % der erwachsenen Bevölkerung von einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung sowie 0,1 % der Kinder und Jugendlichen von einer juvenilen Arthritis betroffen. Dies seien bis zu 2,1 Millionen erwachsene und 14.000 jugendliche Patienten – ein deutlicher Anstieg gegenüber den letzten verfügbaren Daten von 2016, so die Studienautoren. Die Versorgung der Patienten sei durch „lange Wartezeiten und weite Anfahrtswege“ geprägt, wie Rotraut Schmale-Grede, Präsidentin der Deutschen Rheuma-Liga, erläuterte. Im Durchschnitt dauere es 18 Monate, bis ein RA-Betroffener nach Symptombeginn bei einem Rheumatologen in die Versorgung komme, bei Psoriasis-Arthritis seien es 29 Monate und bei Morbus Bechterew sogar 67 Monate. „Das können wir so nicht hinnehmen! Bei Verdacht auf entzündliches Rheuma müssen alle Möglichkeiten genutzt werden, um den Zugang in die Versorgung zu beschleunigen. Studiendaten zeigen, dass Rheumakranke, die nicht in rheumatologischer Behandlung sind, wesentlich seltener Medikamente erhalten, die die Krankheitsaktivität reduzieren können.“
Davon betroffen sind insbesondere ältere Frauen und Männer, denn die Häufigkeit vieler rheumatischer Erkrankungen nimmt mit zunehmendem Lebensalter zu, wie Prof. Ulf Walter aus Leipzig erläuterte. Besonders gut dokumentiert sei dies bei rheumatoider Arthritis, deren Prävalenz ab dem 60. Lebensjahr deutlich steige. Eine im höheren Lebensalter auftretende Sonderform der RA sei häufig durch einen schnellen und hochakuten Krankheitsbeginn, aber auch durch einen besonders schweren, gelenkzerstörenden Verlauf gekennzeichnet. 

Zurückzuführen seien solche Erkrankungen auf alterungsbedingte Veränderungen des Immunsystems, die sogenannte Immunseneszenz. Zwar seien die Vorgänge auf T-Zell-Ebene in den vergangenen Jahren gut erforscht, gleichwohl gebe es noch keine „an der Ursache der Alterungsprozesse angreifenden Therapiemöglichkeiten“, sagte Walter. 
Uwe Groenewold