Bewusstsein für Diabetes steigern
Bis Mitte des Jahres will der Bund mit den Ländern abgestimmte Eckpunkte zur Krankenhausreform vorlegen. Ziel ist es u.a., die Krankenhausleistung vermehrt über Vorhaltepauschalen zu finanzieren. Diese sollen zwischen 40 und 60 % der Behandlungskosten abdecken, ähnlich wie in der Pädiatrie und Geburtshilfe, wo solche Pauschalen im vergangenen Jahr mit dem Krankenhauspflege-Entlastungsgesetz eingeführt worden sind.
DDG-Vizepräsident Prof. Andreas Fritsche betonte in Berlin, ob die von Minister Prof. Karl Lauterbach angekündigte „Revolution im Krankenhaussektor“ gelinge, hänge insbesondere am Umgang mit den vulnerablen Patientengruppen – also „den chronisch Kranken, Kindern und multimorbiden Älteren“. Schon jetzt sei die Versorgung der jährlich rund drei Millionen Patienten, die „mit und wegen Diabetes“ in Krankenhäusern behandelt würden, „akut gefährdet.“ Oft fehle es in den Häusern an „Bewusstsein für Diabetes“ – zumeist resultierend aus fehlenden Diabeteskenntnissen bei behandelnden Ärzten und Pflegekräften. Nur 17 % der Kliniken halten eine ausreichend qualifizierte Diabetesexpertise gemäß DDG-Zertifizierung vor, so Fritsche.
Dies schlage sich im Umgang mit den Diabetespatienten nieder. Bisher werde bei stationärer Aufnahme nicht flächendeckend und nach einheitlichen Standards auf Diabetes gescreent und behandelt. Dabei würden Untersuchungen zeigen, dass bis zu 23 % aller Patienten in Notaufnahmen einen nicht bekannten Diabetes haben. Patienten mit Diabetes müssten häufiger bereits in jungen Jahren ins Krankenhaus, haben längere stationäre Aufenthalte und mehr Komplikationen als stoffwechselgesunde Mitmenschen. So seien sie etwa im Alter zwischen 40 und 50 Jahren dreimal häufiger von Schlaganfall und Myokardinfarkt betroffen. Einer Umfrage zufolge, so Fritsche, habe fast jeder dritte Patient mit Diabetes Typ 1 schlechte Erfahrungen in einer nicht-zertifizierten Klinik gemacht. Insbesondere Träger von Insulinpumpen blieben in über 80 % ohne Ansprechpartner für ihre Technologie; diese müsse während der Behandlung auf Geheiß des medizinischen Personals oftmals sogar ausgeschaltet werden. „Der Aufenthalt in Krankenhäusern könnte für Diabetespatienten zunehmend gefährlich und sogar tödlich werden“, mahnte Fritsche.
Nötig sei die Einrichtung sogenannter Diabetes-Units, also konsiliarisch tätiger Behandlungsteams. Die Krankenhausreform müsse zudem sicherstellen, dass eine zertifizierte und abgestufte Diabetesbehandlung auf allen drei geplanten Versorgungsebenen – Grundversorger, Maximalversorger und Schwerpunktversorger – vorgehalten werde, so Fritsche. Seine Sorge sei allerdings, dass der Diabetes „entweder ganz vergessen oder auf den untersten Level der Versorgung verbannt wird“.
In die gleiche Kerbe schlägt Prof. Morten Schütt, Sprecher der Schleswig-Holsteinischen Gesellschaft für Diabetes, die Teil der DDG ist. Diabetologe Schütt, der 20 Jahre in der Klinik gearbeitet hat und seit mehr als sechs Jahren niedergelassener Arzt in einer Diabetesschwerpunktpraxis ist, sieht „eine seit Jahren progrediente Problematik der Versorgung von Menschen mit Diabetes in deutschen Kliniken, die mittel- bis langfristig sämtliche Ebenen der Diabetesversorgung betreffen wird oder bereits betrifft“. Auf Anfrage des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblattes erklärte Schütt, dass die „vordergründige wirtschaftliche Betrachtung und Leitung von Krankenhäusern … wichtige Bausteine der vermeintlich wirtschaftlich unattraktiveren Diabetesversorgung bedroht oder bereits abgeschafft hat“. Abteilungen für die Diabetesversorgung seien zunehmend weniger mit Betten und Personal ausgestattet und teilweise sogar ganz geschlossen worden.
Dieser Prozess habe „schwerwiegende Folgen für sämtliche Ebenen der Diabetesversorgung“, also für Hausarztpraxen, Schwerpunktpraxen und Kliniken, sowie für die Ausbildung von Diabetologen, Wundtherapeuten, Diabetesberatern und -assistenten. „Diese dramatische, hausgemachte Situation der Unterversorgung trifft auf der anderen Seite auf eine immer wichtigere Bedeutung der Diabetologie im Gesundheitswesen“, so Schütt. Die Prävalenz sämtlicher Diabetesformen nehme kontinuierlich zu. Vor allem Kliniken müssten sich dieser Situation stellen. Es sei „äußerst kurzsichtig, diesen Patienten keine qualifizierte Versorgung in den Kliniken zu ermöglichen, da neben einer adäquaten und zeitgemäßen Behandlung auch ein wirtschaftlicher Benefit durch eine kürzere Liegedauer und erfolgreichere Therapie der Hauptdiagnosen entstehen würde“.
Schütt plädiert dafür, dass die Diabetesversorgung „aufgrund der herausragenden Bedeutung und der Häufigkeit in den Kliniken wirtschaftlich unabhängig sein und vielmehr als eine Art Qualitätsmerkmal der Versorgung“ angesehen werden müsse – ähnlich etwa der Versorgung von Menschen mit multiresistenten Keimen. Hilfreich wären außerdem „unabhängige Diabetesteams, die keiner übergeordneten Leitung unterstehen, in sämtlichen Bereichen der Kliniken eingesetzt werden und die sich nicht wirtschaftlich rechtfertigen müssen“. Eine solche Struktur würde als Ausgangspunkt für Fort- und Weiterbildung die Möglichkeiten der Nachbesetzung von Praxen verbessern und zugleich die Kommunikation zwischen den verschiedenen Fachbereichen optimieren, so Schütt.
Optimierungsvorschläge hat auch Prof. Matthias Laudes, Direktor des Instituts für Diabetologie und klinische Stoffwechselforschung am UKSH in Kiel. Er plädiert bei der Diabetesversorgung für einen Ausbau des teilstationären Bereichs, etwa in Form von Tageskliniken. „Aus meiner Sicht stellt dies für die Diabetologie, aber auch für die anderen, vorwiegend ambulant arbeitenden internistischen Fachdisziplinen wie etwa die Endokrinologie und Rheumatologie eine ideale Versorgungsstruktur dar“, erklärte Laudes auf Anfrage. Am UKSH in Kiel habe man 2018 eine solche Tagesklinik aufgebaut, in der „Komplextherapien für Patienten mit Typ-2-Diabetes und Adipositas“ angeboten würden. Der Stellenwert dieser Einrichtung spiegele sich in den hohen Patientenzahlen wider, die seit Gründung in der Tagesklinik leitliniengerecht behandelt werden konnten, „ohne hierfür die knapp bemessenen stationären Betten nutzen zu müssen“, so Laudes.
Die Weiterbildung im Fach Diabetologie stelle an Universitätskliniken kein Problem dar, da dort stationärer und ambulanter Bereich etabliert seien. Anders sehe dies an kommunalen, privaten oder kirchlichen Krankenhäusern aus, da dort in aller Regel keine mit Schwerpunktpraxen vergleichbaren Ambulanzstrukturen vorgehalten werden. „Hier sollte nach meinem Ermessen eine enge Kooperation durch Austausch und Rotation von Weiterbildungsärzten in Schwerpunktpraxen erfolgen“, so Laudes. Dadurch könne „in der Summe der zukünftige Bedarf an Diabetologen für die Patientenversorgung in Schleswig-Holstein sichergestellt werden“.
Zur Debatte rückläufiger Lehrstühle – die DDG beklagt, dass es an den 37 medizinischen Fakultäten in Deutschland nur noch acht bettenführende Lehrstühle in der Diabetologie gebe – hat Laudes eine norddeutsch geprägte Sicht: Das UKSH und die Universitäten in Kiel und Lübeck hätten hier „einen alternativen Weg entwickelt, der für die universitäre Diabetologie in Deutschland Modellcharakter haben könnte“. Kiel und Lübeck hielten jeweils W3-Professuren für Diabetologie vor. „Prof. Sebastian Meyhöfer und ich vertreten die Bereiche Lehre und Forschung als Direktoren von eigenständigen Instituten, der Bereich Krankenversorgung hingegen ist in große allgemeininternistische Abteilungen in der Klinik eingebunden. Damit können wir ambulante und stationäre Versorgungseinrichtungen nutzen, ohne dass eigenständige Bettenkontingente spezifisch für die Diabetologie vorgehalten werden müssen.“ Meyhöfer und Laudes verfügen jeweils über die volle Weiterbildungsermächtigung für Endokrinologie und Diabetologie, sodass „mit diesem Modell der Nachwuchs im Fach Diabetologie am UKSH suffizient weitergebildet werden kann und zeitgleich die Sichtbarkeit unserer wissenschaftlichen Arbeit eigenständig bleibt“.
Zahlen aus der Diabetologie
Derzeit sind in Deutschland 8,7 Millionen Menschen von Diabetes betroffen, die Dunkelziffer beträgt zwei Millionen Menschen, jährlich erkranken eine halbe Millionen Menschen neu. Bis 2040 wird die Zahl auf etwa 12,3 Millionen Menschen steigen, 95 % der Betroffenen haben einen Diabetes Typ 2.
Das Sterberisiko eines Diabetikers ist etwa 1,5-fach höher als das eines Menschen ohne Diabetes. Die Lebenserwartung eines 40-jährigen Typ-2-Diabetikers liegt vier (Frauen) bis sechs (Männer) Jahre unter der einer gleichaltrigen Person ohne Diabetes. Insgesamt sind rund 16 Prozent aller Sterbefälle in Deutschland mit Diabetes assoziiert – vor allem durch die große Zahl an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfällen (bis zu 25 % der Schlaganfallpatienten sind auch Diabetiker).
Ein Hausarzt betreut rund 100 Menschen mit Diabetes, bundesweit gibt es etwa 1.100 diabetologische Schwerpunktpraxen. Etwa die Hälfte der Patienten erhält blutzuckersenkende Medikamente, 1,5 Millionen Diabetiker werden mit Insulin behandelt.
Die jährlichen Gesamtkosten belaufen sich in Deutschland auf etwa 39 Milliarden Euro, der Großteil davon entfällt auf Folgekosten aufgrund der vielfältigen Diabeteskomplikationen. Menschen mit Diabetes verursachen doppelt so hohe Gesundheitskosten wie vergleichbare Versicherte ohne Diabetes. (Quelle: DDG)
Uwe Groenewold