EU-Reglementierungen im Gesundheitswesen
Herr Dr. Tobis, der Hartmannbund Landesverband hat in seiner jüngsten Mitgliederversammlung im Juni die „Strahlkraft der europäischen Gesetzgebung auf das ärztliche Handeln“ in den Mittelpunkt gestellt. Wo spüren Ärztinnen und Ärzte diese Strahlkraft denn überhaupt?
Dr. Mark F. Tobis: Zum ersten Mal ganz konkret gespürt haben wir Ärztinnen und Ärzte die „Strahlkraft der europäischen Gesetzgebung auf unser ärztliches Handeln“ im Jahr 2018, als in der EU die Datenschutzgrundverordnung in Kraft trat. Hier mussten einige Veränderungen in unseren Institutionen durchgeführt werden.
Des Weiteren bereitete die strenge Auslegung der europäischen Verordnung über Medizinprodukte (MDR) große Probleme, welche ab dem 26. Mai 2021 galt. So durften jahrzehntelang bewährte Desinfektionsmaßnahmen für medizinische Geräte nicht mehr praktiziert werden. Manche medizinischen Maßnahmen mussten aufgrund dieser Verordnung ausgesetzt werden, was natürlich nicht überall auf Verständnis stieß. Auch wenn Vorgaben dieser Art mit den richtigen Absichten, in diesem Fall also mit dem Gedanken an die Sicherheit medizinischer Produkte und Geräte, implementiert werden: Die Folgen für den ärztlichen Alltag können weitreichend sein.
Es gibt auch positive Beispiele
Die Strahlkraft ist also eher negativ − oder gibt es auch positive Beispiele?
Tobis: Obwohl die EU etwas Wunderbares ist, fallen uns einige ihrer negativen Auswüchse zurzeit auf die Füße. Die Intentionen der Verordnungen wie der DSVGO, dem MDR oder dem künftigen EDR sind gut, aber die Folgen der Verordnungen scheinbar nicht richtig durchdacht.
Ein Beispiel: § 15 Abs. 3 der DSGVO: „Der Verantwortliche stellt eine Kopie der personenbezogenen Daten, die Gegenstand der Verarbeitung sind, zur Verfügung. Für alle weiteren Kopien, die die betroffene Person beantragt, kann der Verantwortliche ein angemessenes Entgelt auf der Grundlage der Verwaltungskosten verlangen.“ Eine Art Schutzgebühr schon ab der ersten Erstellung einer Aktenkopie wäre für diesen teilweise hohen Aufwand angemessen gewesen, da medizinische Dokumentationen sehr umfangreich sein können und eventuell rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Ein positives Beispiel gibt es aber auch und zwar in der MDR: Seit Inkrafttreten müssen die Anzeigen und Dokumentationen von neu verkauften Medizingeräten in der nationalen Sprache erscheinen, entsprechend dem Ort, wo sie eingesetzt werden. In den medizinischen Bereichen müssen zum Teil in Extremsituationen ad hoc Entscheidungen getroffen werden, deren Entscheidungsgrundlagen auf den Informationen medizinischer Geräte beruhen. Verständliche Geräteinformationen in der Landessprache verursachen weniger Missverständnisse und helfen somit, Fehler zu vermeiden.
Konkrete Auswirkungen auf die Arztpraxen
Was käme auf die Arztpraxen und auf das Arzt-Patienten-Verhältnis konkret zu, wenn der europäische Gesundheitsdatenraum so umgesetzt wird, wie derzeit geplant?
Tobis: Nicht viel Neues. Die elektronische Patientenakte gibt es bereits. Diese soll auf Wunsch der Patientin oder des Patienten mit deren Gesundheitsdaten befüllt werden. Die dort eingestellten Daten sollen dann automatisch in den EDR übertragen werden. Das heißt, im Hintergrund sollen künftig die schon national gesammelten Daten in den europäischen Datenraum übertragen werden.
An welchen Stellen müsste aus Ihrer Sicht etwas geändert werden?
Tobis: Wichtig ist, dass das Befüllen von elektronischen Akten zu überhaupt keinem zeitlichen Mehraufwand für die Ärztinnen und Ärzte sowie deren Praxispersonal führt. Das muss komplett automatisiert erfolgen, wenn das Einverständnis der Patientin oder des Patienten vorliegt.
Auch muss das Thema der ärztlichen Schweigepflicht überdacht werden, wenn aus den ärztlichen Dokumentationen automatisiert Daten in andere Medien abfließen sollen.
Die Überlassung der anonymisierten Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken (Sekundärnutzung) sollte kostenpflichtig sein. Die erhobenen Gebühren sollten den Ärztinnen und Ärzten zu Gute kommen. Zum Beispiel könnten die Gebühreneinnahmen in die Altersversorgung von Ärztinnen und Ärzten fließen und damit deren Altersruhegeld stützen.
EU-Politik als Thema auf Landesebene
Auch die KBV und die Bundesärztekammer haben bereits Änderungswünsche angekündigt und arbeiten mit ihren jeweiligen Vertretungen in Brüssel daran. Warum ist es dennoch wichtig, dass Verbände auf Landesebene dieses Thema auf die Agenda setzen?
Tobis: Uns Ärztinnen und Ärzten muss bewusst sein, von wo die Verordnungen kommen, die unser alltägliches Arbeiten beeinflussen. Von der Stadt oder der Gemeinde über den Kreis, über das Bundesland, über den Nationalstaat bis zur EU gibt es eine Vielzahl von Verordnungsgebern. Nur wer hier einen Überblick hat, kann sich bedarfsgerecht informieren und weiß, an welche Stelle man sich bei spezifischen Themen wenden kann.
Allein deshalb müssen möglichst viele Ärztinnen und Ärzte über die Vorgänge bei den zuständigen europäischen Stellen Bescheid wissen. Demokratie verlangt Transparenz. Daher sollen möglichst viele Ärztinnen und Ärzte in die Gesetz- und Verordnungsgebung der EU eingebunden sein und Einfluss auf diese nehmen können. Außerdem müssen in diesen Prozessen auch regionale Besonderheiten berücksichtigt werden. Eine konkrete Folgenabschätzung kann eigentlich nur in der Region und durch die Betroffenen erfolgen.
Sind die Praxen überhaupt in der Lage, neue Vorschriften aus Brüssel oder Straßburg umzusetzen?
Tobis: Den Praxen wird nichts anderes übrigbleiben. Andernfalls drohen ihnen empfindliche Sanktionierungsmaßnahmen.
Aber die EU-Gesetze und -Verordnungen sind nicht unveränderbar in Stein gemeißelt. Wenn sich diese als nicht praktikabel herausstellen, dann können auch sie geändert werden. Als jüngstes Beispiel sind hier die Änderungen in den EU-Fahrgastrechten zu nennen. Noch wichtiger ist es, über geplante neue EU-Gesetze und -Verordnungen informiert zu sein und diese in ihrer Entstehung praxistauglich und anwendbar mitzugestalten.
Weitreichende Folgen der EU-Politik
Gesundheitspolitik ist grundsätzlich Sache der Nationalstaaten und nicht der EU. Dennoch reichen viele Gesetzgebungen aus Brüssel in den Gesundheitsbereich hinein. Sehen Sie es eher kritisch oder als hilfreich an, wenn mehr Einfluss von außen auf das Gesundheitswesen bei uns genommen wird?
Tobis: Es ist hilfreich, wenn wir eine Vereinheitlichung unserer Regelwerke in Europa bekommen. Die Kleinstaaterei schadet am Ende mehr, als dass sie nützt. Das gilt auch für den Gesundheitsbereich. Ich begrüße darum grundsätzlich die Entwicklung hin zu einheitlichen Regelungen, die uns helfen, langfristig zukunftsfähig aus dem europäischen Umfeld weltweit zu agieren.
In der medizinischen Forschung benötigen wir beispielsweise oft hohe Fallzahlen, um zu statistisch signifikanten medizinischen Ergebnissen zu kommen. Jedes Land für sich kann diese statistische Signifikanz alleine meist nicht erreichen. Daher müssen wir, wenn wir in der Welt erfolgreich sein wollen, zumindest europäisch zusammenarbeiten. Einheitliche Regelwerke in Europa unterstützen genau diese notwendige und wichtige Zusammenarbeit. Außerdem ergeben sich durch solche Kooperationen oftmals Lerneffekte und Verbesserungen, die im Idealfall dazu führen, dass sich Standards weiter verbessern und weltweit durchsetzen.
Vielen Dank für das Gespräch.