KI – beeindruckend und beunruhigend zugleich
Sie waren einer der wenigen Mediziner in der Delegation. Warum sind Sie mitgefahren?
Prof. Kai Wehkamp: Zunächst natürlich, weil ich in dem Bereich arbeite und forsche und so eine Reise eine großartige Chance ist, vor Ort zu sehen und zu verstehen, wie andere das Thema KI angehen. Was läuft in den USA eventuell besser, was machen die anders, wovon können wir uns inspirieren lassen – solche Fragen haben mich bewogen, teilzunehmen. Die Reise bot die Möglichkeit, sich über Risiken und Chancen auszutauschen. Man kann auch einfach sagen: Der allgemeine Wissensdurst war ein wichtiger Grund für die Teilnahme.
Warum haben Sie persönlich diese Chance nutzen können?
Wehkamp: Ich forsche im Bereich KI und leite ein entsprechendes Projekt am UKSH. Wir verfügen am UKSH über einen besonders hohen Digitalisierungsgrad und deswegen gibt es bei uns eine ganze Reihe an vielversprechenden KI-Projekten. In der Delegation waren auch etablierte Unternehmer und Start-Ups, Politik und weitere Hochschulen vertreten – u.a. mit Prof. Tillmann Loch aus dem Diako Krankenhaus in Flensburg, einer der Urväter der KI, der bereits vor 24 Jahren eine erfolgreiche KI-basierte Anwendung zur Prostatakrebsdiagnostik entwickelt hat und hier hochaktiv ist.
Welche Erkenntnisse haben Sie in Boston und San Francisco gewonnen?
Wehkamp: Beeindruckend war für mich, mit welchem Drive, mit welcher Dynamik man dort an KI-basierten Veränderungen arbeitet. Man spürt die Energie in der Wissenschaft und in den Unternehmen, die daran arbeiten, ihre Ideen so umzusetzen, dass sie wirtschaftlichen, aber auch gesellschaftlichen Nutzen bringen. Das ganze System scheint darauf ausgerichtet zu sein, echten Output zu erzeugen, etwas zu bewegen.
Ist das wirklich für alle der Antrieb?
Wehkamp: Medizin ist ja durch das Potenzial, hiermit Menschen zu helfen, eigentlich immer sehr sinnstiftend. Und mit KI beschäftigen wir uns, weil wir hoffen, dass sie der Medizin – und damit den Menschen – weiterhelfen kann. Wir stehen da am Anfang großer Veränderungen mit enormen Chancen. KI hat das Potenzial, die medizinische Versorgung zu verbessern – das ist ein Antrieb, den ich bei vielen gespürt habe.
Wir müssen uns aber zugleich mit den Risiken auseinandersetzen, um diese beherrschen zu können. Interessant war für mich, dass uns viele Amerikaner vermittelten, dass sie es ganz gut finden, dass wir Europäer stärker auf den Datenschutz achten und verantwortungsvoll mit den Daten umgehen. Mein Eindruck ist, dass es dort viele – zumindest mit Worten – begrüßen, wenn nicht ausschließlich den kommerziellen, nicht immer am Menschen orientierten Kräften gefolgt wird. Auch dort wird betont, dass die neue Technik zur Büchse der Pandora werden kann, wenn wir nicht mit gewissen Regeln einen verantwortungsvollen Rahmen bilden. Dass dieses Gefühl auch in den USA weit verbreitet ist, hat mich positiv überrascht. Es gibt Projekte, die finde ich beeindruckend und beunruhigend zugleich – und ich glaube, das geht vielen Menschen so, die sich mit KI beschäftigen.
Wie stark beeinflusst es Sie, dass KI ein gewaltiges Manipulationsrisiko beinhaltet?
Wehkamp: Sehr. Das ist eines der aktuell größten Risiken. KI kann uns potenziell in der Entscheidungsfindung unterstützen, das kann ein klarer Nutzen in der Medizin sein. Aber: Aktuell ist KI noch lange nicht perfekt. Und in dieser Transitionszeit, in der wir schon teilweise ganz gute KI haben, die aber noch Fehler macht, besteht die Gefahr, dass wir uns zu sehr auf KI verlassen. Blind das zu tun, was KI uns sagt, ist aktuell noch gefährlich. Wir brauchen Sicherungsmethoden, damit wir die Systeme überwachen und kritisch reflektieren können.
Wie unterschiedlich ist die Haltung hierzu zwischen Deutschland und den USA?
Wehkamp: Nach meinen persönlichen Eindrücken gehen die Menschen in Amerika pragmatischer mit neuen Technologien um und sind bereit, schneller und mit mehr Risikobereitschaft etwas auszuprobieren. Diese Haltung kann Segen und Fluch zugleich sein. In Europa zeichnet uns sicherlich ein verantwortungsvoller Umgang mit Daten und neuen Methoden aus − was aber die Gefahr birgt, dass wir von den KI-Entwicklungen abgehängt werden, die große Bedeutung für die Zukunft der Menschen haben werden. Diese „Einfach mal machen“-Haltung der Amerikaner wünscht man sich manchmal schon auch bei uns, wenn man etwas voranbringen will.
Welche Ergebnisse Ihrer Reise würden Sie als zentral bezeichnen?
Wehkamp: Das sind drei Dinge. Erstens die Erkenntnis, dass für die anwendungsbezogene Weiterentwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse viel Energie erforderlich ist. In den USA sind viele Unternehmen auch räumlich ganz nah an der Wissenschaft angesiedelt, beispielsweise auf dem Kendall-Square in Boston, der angeblich innovativsten Quadratmeile der Welt. Dazu gehört auch, dass die wirtschaftliche Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse dort positiv besetzt ist, sogar zum Selbstverständnis gehört. In Schleswig-Holstein ist in dieser Hinsicht in den vergangenen Jahren schon viel passiert, der Wissenstransfer in die Praxis gelingt besser und auch für die Studenten gibt es immer mehr Angebote in diese Richtung. Die Frage, wie wir Wissenschaft und Wirtschaft besser miteinander verzahnen können, kann man aber bei allen Beteiligten noch stärker in den Vordergrund rücken, um unsere Gesellschaft weiterzuentwickeln.
Zweitens, dass die Motivation der Menschen zentral für den Erfolg ist. Bei diesem Punkt haben die Amerikaner uns vermutlich einiges voraus. Das Arbeitsumfeld und die Stimmung unter den Beschäftigten, mit denen wir vor Ort Kontakt hatten, waren beeindruckend gut. Die Menschen dort wirken positiv und hochmotiviert, sie wollen etwas bewegen. Fast in jedem Unternehmen gab es Maßnahmen, um diese Motivation zu fördern. Natürlich haben wir dort keinen ganz unverfälschten Blick auf die Realität werfen können. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass wir an der Einstellung in Deutschland noch arbeiten können. Die positive Ausrichtung auf Ziele fördert die Motivation, die Zufriedenheit und die Dynamik.
Drittens, dass wir in Sachen Verantwortungsbewusstsein und Risikoeinschätzung von KI-Anwendungen nicht ganz falsch liegen. Die Amerikaner haben uns zurückgespiegelt, welche wichtige Rolle die EU in dieser Hinsicht übernimmt. Das hatte ich so nicht erwartet. Und übrigens müssen wir uns auch in Hinblick auf unsere Daten und technischen Ansätze in vielen Punkten nicht hinter den Amerikanern verstecken. Zum Beispiel wurde auf der Reise von Prof. Claus Glüer der Startschuss für die nächste Stufe eines KI-Projektes mit der UCSF gegeben. Da fließt auch einiges an wissenschaftlichem Input von Kiel nach San Francisco.
Wie geht es weiter mit der KI in der Medizin?
Wehkamp: KI muss sich beweisen! Dafür müssen wir die richtigen Fragen stellen: Wie zuverlässig ist die Technologie, die wir einsetzen wollen? Welche Risiken gibt es, welche Bias? Wie lässt sie sich in die Prozesse von Praxen und Krankenhäusern so integrieren, dass sie wirklich hilft und kein Ballast ist? Wie können wir künftig noch mehr verschiedene Datenarten verarbeiten, zum Beispiel DNA, Proteindaten, Mikrobiom und Bewegungsdaten? Und vor allem: Können wir einen echten Nutzen für die Patienten oder Effizienzgewinne zeigen und wie gewährleisten wir Patientensicherheit?
Was bedeutet das für die Ärztinnen und Ärzte?
Wehkamp: Ganz oben steht, dass wir uns dafür öffnen, uns mit dem Thema überhaupt auseinanderzusetzen. Wir sind gefordert, die Möglichkeiten von KI aufgeschlossen, aber auch kritisch abzuwägen. Dafür müssen wir uns in die Lage versetzen, KI beurteilen zu können. Wir als Ärztinnen und Ärzte müssen die Risiken von KI verstehen, um diese verantwortungsvoll einsetzen zu können und gegebenenfalls auch rein kommerzielle Interessen zurückzuweisen, wenn diese die Patientenversorgung nicht positiv unterstützen. Sonst laufen wir Gefahr, dass man uns in dieser Frage den Rang abläuft. KI zu ignorieren, wäre gefährlich und falsch.
Künstliche Intelligenz ist für Sie ein Herzensthema − warum?
Wehkamp: In erster Linie, weil wir damit die Chance haben, die Versorgung für alle Menschen zu verbessern und die Abläufe effizienter zu gestalten. Die Medizin würde um einiges besser werden, wenn wir es schaffen, das bereits bestehende medizinische Wissen besser und zielgenauer einzusetzen. Das medizinische Wissen und die zur Verfügung stehenden diagnostischen und therapeutischen Daten werden außerdem fast von Tag zu Tag umfangreicher – für uns wird es zunehmend schwierig, dieses Wissen zu überschauen und richtig einzusetzen. Wir haben dafür nicht mehr die Kapazitäten. Gerade hier kann KI hoffentlich helfen. Und ich hoffe auch, dass wir dadurch künftig mehr Zeit für die so unglaublich wichtigen menschlichen Aspekte unserer Arbeit haben: für die Zuwendung zu unseren Patienten. Vielleicht wird die Medizin durch künstliche Intelligenz also künftig sogar menschlicher.
Vielen Dank für das Gespräch.