Adipositas
Glückwunsch zur Präsidentschaft der DAG. Welche Aufgaben erwarten Sie in diesem Ehrenamt?
Prof. Matthias Laudes: Die Deutsche Adipositas Gesellschaft ist eine wissenschaftliche Fachgesellschaft, deren Mitglieder wissenschaftliche Ergebnisse, die im Themenfeld Adipositas produziert werden, beurteilen, einordnen, darüber informieren und Statements dazu abgeben. Auch der Austausch mit Selbsthilfegruppen und Patientenverbänden hat einen sehr hohen Stellenwert. Als Präsident stehe ich bei all diesen Aufgaben natürlich im Fokus.
Die Zahl der Patienten mit Adipositas steigt beständig. Mindestens jeder zweite Erwachsene in Deutschland gilt als übergewichtig. Sie haben in dem Zusammenhang den Begriff Adipositasmedizin geprägt. Was verstehen Sie darunter?
Laudes: Wir haben seit vielen Jahren die Adipositaschirurgie. Das nicht-chirurgische Pendant dazu ist die Adipositasmedizin, die alle konservativen Behandlungsansätze umfasst und ebenfalls sehr, sehr effektiv sein kann. Gemeinsam mit der Deutschen Diabetes Gesellschaft bietet die DAG eine zertifizierte Weiterbildung zum Adipositologen an. Die richtet sich an Ärztinnen und Ärzte, Ökotrophologen, Sportwissenschaftler oder Psychologen, um deren klinische Expertise in der Adipositasmedizin zu schulen. Langfristig kann ich mir gut vorstellen, dass Adipositasmedizin ein Überbegriff für alle Behandlungen rund ums krankhafte Übergewicht und damit zu einem echten Teilgebiet der Medizin wird.
Mehr als 10.000 Ärzte in Deutschland haben die Zusatzqualifikation Ernährungsmedizin erworben. Was bedeutet das für die Adipositasbehandlung?
Laudes: Die Ernährungsmedizin ist insgesamt breiter aufgestellt, umfasst etwa auch künstliche Ernährung, Lebensmittelunverträglichkeiten oder Ernährung im Alter. Der Adipositologe fokussiert sich auf die Adipositas, neben chirurgischen geht es etwa auch um verhaltens- und bewegungstherapeutische Aspekte. Beide Ansätze ergänzen sich. Ich bin übrigens selbst auch Ernährungsmediziner.
Wie gewaltig wird die Aufgabe, die vor allem auf niedergelassene Ärzte mit der steigenden Zahl stark übergewichtiger Patienten zukommt?
Laudes: Sicher, der Mehraufwand für die Hausärzte steigt stetig. Mit dem zum 1. Juli 2024 in Kraft getretenen Disease-Management-Programm (DMP) sollte die Versorgung insgesamt jedoch strukturierter werden. Die Hausärzte werden für die Langzeitbetreuung der Patienten und für die Durchführung der Schulungsprogramme mit einem Zusatzentgelt bedacht.
Welche Bedeutung hat das DMP für die Adipositasversorgung?
Laudes: Die ist gar nicht hoch genug einzuschätzen! Adipositas ist erst seit 2020 in Deutschland als Krankheit eingestuft, das ist in der Gesellschaft noch gar nicht richtig angekommen. Auch auf ärztlicher Seite heißt es häufig noch, mit weniger Essen und mehr Bewegung könne das Problem leicht beseitigt werden. Doch Adipositas ist deutlich vielschichtiger und mit dem DMP wird sie erstmals auch als chronische Erkrankung eingestuft.
Für wen ist das Programm gedacht?
Laudes: In den ambulanten Sektor, also in die Hände der Hausärzte, gehören insbesondere Adipositas ersten und zweiten Grades. Das sind Patienten mit einem BMI über 30 beziehungsweise 35. Vor allem bei Selbsthilfegruppen ist es allerdings zu Unmut gekommen, weil Patienten mit einem BMI unter 35 und ohne Folgeerkrankungen wie Bluthochdruck oder Typ-2-Diabetes von der strukturierten Versorgung des neuen DMP bislang ausgeschlossen bleiben. Die extremen Formen, also Patienten mit einem BMI über 40 und meist auch mit Folgeerkrankungen, sind in Adipositaszentren oder auch in einer tagesklinischen Behandlung gut aufgehoben, diese Versorgung ist etabliert.
Sollten die Sektorengrenzen nicht auch hier durchlässig sein?
Laudes: Selbstverständlich! Die Übergänge zwischen Hausarzt, Spezialambulanz, Tagesklinik und Zentrum sollten fließend sein und sich nach der gesundheitlichen Situation des Patienten richten.
Kommen wir zu den medizinischen Aspekten der Adipositasversorgung. Welche Bedeutung haben die neuen medikamentösen Behandlungsoptionen wie GLP1-Agonisten oder duale Agonisten, um die ein regelrechter Hype entstanden ist, Stichwort Abnehmspritze?
Laudes: Bei der Behandlung chronischer Erkrankungen gibt es in der Regel eine Schub- und eine Basistherapie. Dies bedeutet, dass man die Krankheitsaktivität zunächst reduziert und dann stabilisiert. Die konservative Adipositasmedizin kann mit verschiedenen Programmen initial sehr effektiv Gewicht reduzieren. Das Problem ist die langfristige Sättigungsregulation. Mit den neuen Medikamenten kann der Impuls des Gehirns „Ich habe Hunger, ich bin nicht satt“ langfristig kontrolliert werden. Damit können Lebensstiländerungen, die in den Schulungsprogrammen vermittelt worden sind, auch wirklich eingehalten werden.
Eine kürzlich in Nature veröffentlichte Studie der Uni Zürich hat gezeigt, dass Fettzellen eine Art Gedächtnis haben und ihre Eigenschaften über viele Jahre nicht ändern – unabhängig von einer bariatrischen OP oder medikamentösen Therapie. Müssen Patienten die Medikamente also lebenslang nehmen, um Gewichtsabnahme und Metabolismus zu stabilisieren?
Laudes: Durch die Evolution ist die Menschheit genetisch veranlagt, auf Reserven zu essen. Das heißt, wir essen immer ein bisschen zu viel. Die Medikamente greifen dauerhaft in diesen Prozess ein, indem sie das Sättigungsgefühl regulieren.
Ohne die Medikamente steigt das Gewicht also zügig wieder an?
Laudes: Dieses hässliche Wort Jo-Jo-Effekt mögen wir in der Adipositasmedizin gar nicht. Wenn Sie bei Bluthochdruck einen ACE-Hemmer nehmen, geht der Druck runter. Wenn Sie den ACE-Hemmer absetzen, steigt er wieder. Da spricht auch keiner von einem Jo-Jo-Effekt, weil es akzeptiert ist, dass Bluthochdruck eine chronische Erkrankung ist, die dauerhaft behandelt werden muss. Genauso muss man das eben auch bei Adipositas sehen.
Es geht also um deutlich mehr, als kurzfristig 20 kg zu verlieren?
Laudes: Richtig, das kriegt man meist auch anders hin, mit Formula-Diäten und ähnlichen Maßnahmen. Wichtig ist, langfristig das niedrigere Gewicht zu stabilisieren, um auch mit Adipositas assoziierte Folgeerkrankungen zu verhindern. Die sogenannte SELECT-Studie hat Adipositas erstmals als behandelbaren kardiovaskulären Risikofaktor identifiziert. Durch die langfristige Gabe eines GLP1-Agonisten bei adipösen Patienten ohne Diabetes konnte der kombinierte Endpunkt der Studie aus kardiovaskulärem Tod, Herzinfarkt und Schlaganfall um 20 % gesenkt werden. Über den reinen Gewichtseffekt hinaus hat die medikamentöse Adipositasbehandlung also auch einen großen kardiovaskulären Nutzen.
Sollte für diese Patientengruppe die teure Medikation von den Krankenkassen übernommen werden?
Laudes: Wenn bei einem Patienten mit Adipositas und bestehender Herz-Kreislauf-Erkrankung durch diese medikamentöse Therapie sowohl das Gewicht heruntergehen kann als auch das kardiovaskuläre Risiko gesenkt wird, sollte das ein klares Statement für eine Kostenübernahme sein. Die Behandlung ist medizinisch sinnvoll, indem sie das Risiko für Folgeerkrankungen in den nächsten Jahren abfedert, und spart dadurch erhebliche Behandlungskosten in der Zukunft ein. Ähnliches gilt eventuell auch für weitere Folgeerkrankungen, wie die weit verbreitete Leberverfettung und -zirrhose.
Wohin geht die Reise in Sachen Digitalisierung bei der Adipositasbehandlung?
Laudes: Rund 20 % der Adipositaspatienten haben einen Typ-2-Diabetes. Viele insulinpflichtige Diabetespatienten managen ihre Erkrankung und ihre Werte über Apps auf ihrem Smartphone. Ich gehe davon aus, dass in fünf bis zehn Jahren auch das Gros unserer Adipositaspatienten mit digitalen Anwendungen versorgt wird. Solche Apps sind sinnvolle Langzeitinstrumente, die wichtige Daten speichern und den Patienten immer wieder an Maßnahmen und Aktivitäten erinnern. Auch die Zahl der Videosprechstunden zwischen Praxis oder Spezialambulanz und Patient wird steigen, wenn Messwerte zu Hause erhoben und digital übermittelt werden können. Es wird aber immer auch Patienten geben, die all das nicht wollen und den unmittelbaren Austausch mit Ärztin oder Arzt suchen. Das ist selbstverständlich völlig in Ordnung.
Lässt sich die stetige Zunahme von Adipositaserkrankungen noch bremsen?
Laudes: Wir leben in einer adipogenen Umwelt, die die Entstehung von Übergewicht begünstigt. Präventiv lässt sich beim Verhalten und bei den Verhältnissen eingreifen. Das geht in den Schulen los, mit der Aufklärung über gesunde Ernährung. Der Nutri-Score auf Lebensmittelverpackungen ist gut, aber nicht verbindlich. Und an die „Quengelware“ an den Supermarktkassen, mit Süßigkeiten in Augenhöhe, traut sich keiner heran. Verhaltensprävention ist Sache der Medizin, Verhältnisprävention Aufgabe der Politik. Nur gemeinsam wird man am Ende das Problem auch in den Griff bekommen.
Vielen Dank für das Gespräch.