Fall aus der Schlichtungsstelle
Die Patientin befand sich zur Entbindung ihrer Zwillinge in einer Schleswig-Holsteinischen Klinik. Der erste Zwilling wurde nach einem komplikationslosen Schwangerschaftsverlauf am 15.05. in der 35. Schwangerschaftswoche um 20:46 Uhr spontan geboren.
Danach war das CTG zwischen 20:50 Uhr und 21:30 Uhr mit einer silenten Oszillationsamplitude und regelmäßigen Dezelerationen bis zu 60 S/min pathologisch. Erst nach 21:30 Uhr zeigte sich eine zunehmende Normalisierung des CTG. Um 20:55 Uhr wurde eine sonografische Kontrolle durchgeführt. Ergänzend ist zu erwähnen, dass sich der zweite Zwilling seit der 26. Schwangerschaftswoche konstant in Querlage befand. Laut Behandlerseite konnte aufgrund der schwierigen Schallbedingungen (die Patientin wog zu diesem Zeitpunkt 115 kg, im Kreißsaal herrschten suboptimale Lichtverhältnisse) keine eindeutige Lagebestimmung erfolgen, es wurde vermutet, am „ehesten“ handele es sich um eine Beckenendlage. Bei ausbleibenden Wehen erfolgte um 22 Uhr die Anlage eines Wehentropfes. Bei einem erneuten Ultraschall um 23:55 Uhr wurde die dorsoinferiore Querlage des Kindes festgestellt. Es folgte eine sekundäre Sectio des zweiten Zwillings aus Querlage um 1:08 Uhr am 16.05. Dabei wurde im OP-Bericht folgendes dokumentiert: „Extrem erschwerte Entwicklung eines männlichen Neugeborenen aus Querlage. Der Uterus ist sanduhrförmig konfiguriert und das Kind im oberen Teil eingeklemmt.“ Bei der Entwicklung kam es zu einer Fraktur des kindlichen Oberschenkels.
Beanstandungen der ärztlichen Maßnahmen
Vermutet wurde ein fehlerhaftes Vorgehen der anwesenden Ärzte im Rahmen der Geburt des zweiten Zwillings.
Die Verzögerung des Geburtsverlaufs bei dem zweiten Kind sei nicht richtig eingeschätzt und ein eingetretener Geburtsstillstand nicht rechtzeitig erkannt und behandelt worden. Zudem sei die Lageeinschätzung hinsichtlich einer möglichen Geburt auf natürlichem Wege fehlerhaft vorgenommen worden, sodass es zu den Komplikationen mit Querlage des Kindes gekommen sei und dann notfallmäßig ein Kaiserschnitt mit allen negativen Konsequenzen für die Mutter und das Kind habe durchgeführt werden müssen. Des Weiteren wäre es vermeidbar gewesen, dass das Kind bei seiner Geburt eine Oberschenkelfraktur sowie damit verbundene Schmerzen erleiden musste.
Das externe medizinische Gutachten
Der von der Schlichtungsstelle beauftragte externe Gutachter, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, hat folgende Kernaussagen getroffen:
Eine primäre Schnittentbindung war in der vorliegenden Situation nicht zwingend erforderlich. Das abwartende Verhalten nach der Geburt des ersten Zwillings war jedoch schon vor dem Hintergrund des zunächst hochpathologischen CTG unverständlich. Im vorliegenden Fall war das Intervall zwischen den Zwillingsgeburten deutlich zu lang.
Seit der 26. SSW lag der zweite Zwilling bis zu seiner Geburt ausnahmslos in Querlage. Unmittelbar nach der Geburt des ersten Zwillings hätte eine Ultraschalluntersuchung zweifelsfrei ergeben müssen, dass eine geburtsunmögliche Quer- und nicht eine Beckenendlage vorlag. Dann hätte ein äußerer Wendungsversuch unternommen werden können, falls kein weiterer Blasensprung eingetreten wäre. Als Alternative wäre eine unmittelbare Sectio am zweiten Zwilling möglich gewesen. Auf ein hochpathologisches CTG des zweiten Zwillings über 40 Minuten wurde fehlerhaft nicht mit einer Notsectio reagiert. Wenn diesem CTG eine vorzeitige Plazentalösung zugrunde gelegen hätte, wäre der zweite Zwilling vital bedroht gewesen.
Das Anhängen eines Wehentropfes bei Querlage über etwa zwei Stunden war grob fehlerhaft und hätte zur Uterusruptur und in letzter Konsequenz zur Hysterektomie führen können.
Der Kaiserschnitt war hier aufgrund der verschleppten Querlage mit eingekeiltem Kind erheblich erschwert gewesen. Es kann bei einer komplizierten Entwicklung anlässlich eines Kaiserschnitts zu einer kindlichen Knochenfraktur kommen, ohne dass ein Behandlungsfehler vorliegen muss. Daher konnte der Gutachter keine eindeutige Aussage zu der Frage treffen, ob die eingetretene Femurfraktur kausal fehlerbedingt eintrat oder die Verletzung schicksalhaft war. Er ging jedoch davon aus, dass bei einer rechtzeitigen Kaiserschnittentbindung beim 2. Zwilling die Chance größer gewesen wäre, dass die Entwicklung des Kindes ohne Knochenbruch gelungen wäre.
Die Entscheidung der Schlichtungsstelle
Die Schlichtungsstelle schloss sich dem Gutachten im Ergebnis an: Die Nichtreaktion auf das pathologische CTG, die fehlerhafte Lagebestimmung des Kindes und das Anhängen eines Wehentropfes bei Querlage waren behandlungsfehlerhaft.
Im Einzelnen: Warum infolge des pathologischen CTG über 40 Minuten keine Entscheidung zur Sectio getroffen wurde, war auch für die Schlichtungsstelle nicht nachvollziehbar. Dennoch war der behandelnden Ärztin zugute zu halten, dass in der Geburtshilfe nie eine hundertprozentige Korrelation zwischen dem CTG und dem Zustand des Kindes gegeben ist. Aufgrund dessen hielt die Schlichtungsstelle das Vorgehen zwar für behandlungsfehlerhaft, sah aber in diesem Punkt die Schwelle zu einem groben Behandlungsfehler als noch nicht überschritten an.
Der grobe Behandlungsfehler: Anders verhielt es sich bezüglich der fehlerhaften Lagebestimmung des zweiten Kindes und des Anhängens eines Wehentropfes bei Querlage: Auch nach Ansicht der Schlichtungsstelle hätte mittels Ultraschalluntersuchung unmittelbar nach der Geburt des ersten Zwillings die Lage des zweiten Kindes, welches seit der 26. SSW in permanenter Querlage lag, bestimmt werden müssen. Die korrekt durchgeführte Ultraschalluntersuchung hätte ergeben, dass sich das zweite Kind in einer geburtsunmöglichen Querlage befand. Als Reaktion hätte dann ein äußerer Wendungsversuch (bei stehender Fruchtblase) oder eine unmittelbare Sectio erfolgen können. Das Anhängen des Wehentropfes in dieser Situation über etwa zwei Stunden sah der Gutachter hier sogar als grob fehlerhaft an.
Die Bewertung eines Behandlungsfehlers als grob unterliegt grundsätzlich einer juristischen Wertung. Allerdings kann die Bewertung selbstverständlich nur aufgrund der durch den medizinischen Sachverständigen unterbreiteten Fakten getroffen werden.
Generell ist ein Behandlungsfehler nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes dann als grob zu bewerten, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und dadurch einen Fehler begangen hat, der aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil ein solcher Fehler einem Arzt „schlechterdings nicht unterlaufen darf“ (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BGH, Urt. v. 29.05.2001 – VI ZR 120/00).
In Übereinstimmung mit dem Gutachter hielt die Schlichtungsstelle das Nichterkennen der Querlage, das damit einhergehende zu lange Abwarten nach der Geburt des ersten Kindes sowie das Anhängen des Wehentropfes in dieser Situation für standardunterschreitend und zudem für völlig unverständlich und nicht nachvollziehbar, sodass aus juristischer Sicht von einem groben Behandlungsfehler auszugehen war.
Die Beweislastumkehr: Grundsätzlich obliegt es in arzthaftungsrechtlichen Streitigkeiten dem Patienten, den Behandlungsfehler, den eingetretenen Gesundheitsschaden sowie die Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für diesen Gesundheitsschaden zu beweisen.
Gemäß § 630h Abs. 5 Satz 1 BGB wird jedoch bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers, der grundsätzlich geeignet ist, eine Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, vermutet, dass der Behandlungsfehler für diese Verletzung ursächlich war.
Zwar konnte der Gutachter nicht sicher sagen, ob das Nichterkennen der Querlage und die Anlage des Wehentropfes in Querlage über zwei Stunden für die eingetretene kindliche Femurfraktur ursächlich war. Aufgrund der Feststellung eines groben Behandlungsfehlers musste die Schlichtungsstelle die Ursächlichkeit jedoch vermuten.
Der Gesundheitsschaden
Im Laufe des Verfahrens wurde von der Antragstellerseite weiterhin ausgeführt, es bestehe der Verdacht einer Entwicklungsverzögerung des Kindes. Hierzu wurden mehrere Untersuchungsberichte eines Sozialpädiatrischen Zentrums vorgelegt. In diesen fanden sich jedoch keine Aussagen, die die jetzt bei dem Kind bestehenden Symptome in den Kontext einer „schwierigen“ Geburt stellten. Vielmehr wurde ausschließlich die Frühgeburtlichkeit als perinatales Risiko erwähnt. Hinweise für einen Sauerstoffmangel unter der Geburt ergaben weder die Apgar-Werte noch der Nabelschnur-pH-Wert noch die Blutgasanalysen, die im Verlauf der stationären Behandlung durchgeführt worden waren. Auch Schädelsonographien und eine kernspintomografische Untersuchung des Gehirns ergaben keine Hinweise auf durch Hypoxie bedingte Läsionen.
Ein möglicher Zusammenhang der Entwicklungsverzögerungen mit der Geburt war daher für die Schlichtungsstelle nach Aktenlage nicht erkennbar. Die Schlichtungsstelle konnte auch nicht zu der Überzeugung gelangen, dass eine zwischenzeitlich von einem Facharzt für Orthopädie festgestellte Beinlängendifferenz von einem Zentimeter Folge der während der Geburt erlittenen Femurfraktur war.
Abschließend waren als zurechenbarer Gesundheitsschaden des Kindes die erlittene Femurfraktur sowie die damit verbundenen Schmerzen anzusehen. Den Schaden der Mutter stellten die erlittenen körperlichen und psychischen Belastungen durch den zu langen Geburtsverlauf sowie die psychische Belastung durch die Femurfraktur ihres neugeborenen Kindes dar.
Im Ergebnis waren daher aus Sicht der Schlichtungsstelle Schadensersatzansprüche im dargestellten Rahmen begründet.
Dr. jur. Jessica Siering, Leiterin der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der Ärztekammer Schleswig-Holstein