Werte
„Ständige Reflexion“
Was sind Ihre persönlichen ärztlichen Werte und wie setzen Sie diese im Alltag um? Wir haben die Mitglieder des Vorstands der Ärztekammer um Antworten gebeten.
Prof. Doreen Richardt
Was sind für Sie zentrale ärztliche Werte?
Für mich sind Empathie, Integrität, Kompetenz und Freiberuflichkeit die zentralen ärztlichen Werte. Diese Werte ermöglichen den Aufbau einer im Arzt-Patienten-Verhältnis notwendigen vertrauensvollen Beziehung und die bestmögliche, individuelle Behandlung. Echtes Interesse an den Bedürfnissen und Problemen meiner Patienten und das Handeln nach unseren berufsethischen Prinzipien sind mir wichtig.
Wie gelingt es, diese Werte im beruflichen Alltag umzusetzen?
Die Umsetzung dieser Werte ist oft nicht einfach und braucht ständige Reflexion. Ich versuche, jedem Patienten zuzuhören, die individuellen Umstände zu berücksichtigen und gemeinsam mit dem Patienten die beste Lösung zu finden. Außerdem bin ich ein Fan des lebenslangen Lernens zur Erweiterung meines Wissens, des Austauschs mit Kollegen und ich versuche ein Vorbild für jüngere Kollegen zu sein.
Was hindert Sie daran?
Die größten Hindernisse sind oft der Zeitmangel und die bürokratischen Anforderungen. Aber auch finanzielle Zwänge und Ressourcenknappheit können es erschweren, jedem Patienten die volle Aufmerksamkeit zu widmen.
Was hat sich im Laufe Ihrer ärztlichen Tätigkeit an der Werteorientierung für Sie persönlich geändert?
Für mich haben sich meine Werte nicht grundlegend geändert. Ich sehe aber immer stärker, wie wichtig das persönliche Gespräch und die menschliche Interaktion sowohl mit Patienten als auch mit Kollegen ist.
Hat sich nach Ihrer persönlichen Wahrnehmung die ärztliche Moral verändert?
Ja, sowohl positiv als auch negativ. Einerseits führt der zunehmende ökonomische Druck und die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens mit der Tendenz zur Gewinnmaximierung zu schwierigen (berufsethischen) Situationen. Andererseits sehe ich ein deutlich gesteigertes Bewusstsein für ethische Fragestellungen, Patientenrechte und kulturelle sowie geschlechtsspezifische Unterschiede in der ärztlichen Gemeinschaft.
Hannah Teipel
Was sind für Sie zentrale ärztliche Werte?
Im Mittelpunkt des ärztlichen Handelns sollte immer eine bestmögliche Behandlung nach medizinischen Grundsätzen und das Wohl der Patient/innen stehen. Ebenso sollen Wünsche und Werte der Patient/innen vorrangig Berücksichtigung finden.
Wie gelingt es, diese Werte im beruflichen Alltag umzusetzen? Was hindert Sie daran?
Ich würde sagen, dass ich überwiegend an den Werten festhalten und für meine Werte einstehen kann. Mitunter immer noch sehr hierarchische Strukturen in Krankenhäusern, eine enge Personaldecke und der Kostendruck, der auferlegt wird, sorgen dafür, dass die optimale Patient/innenversorgung nicht zu jeder Zeit von jedem Arzt/jeder Ärztin priorisiert werden kann. Ich würde mir wünschen, dass alle weiterhin für diese Werte einstehen können.
Was hat sich im Laufe Ihrer ärztlichen Tätigkeit an der Werteorientierung für Sie persönlich geändert?
Ich bin noch nicht lange dabei und würde sagen, dass meine Werte dieselben sind mit denen ich vor 4 Jahren begonnen habe. Vielleicht bewerte ich den individuellen Patient/innenwillen mittlerweile höher als die Vorgaben der medizinischen Leitlinie.
Hat sich nach Ihrer persönlichen Wahrnehmung die ärztliche Moral verändert?
Ich höre das manchmal von älteren Kolleg/innen, ich glaube aber, dass die zentralen ärztlichen Werte immer noch dieselben sind wie vor 30/50/100 Jahren. Es scheitert aber eben manchmal an der Umsetzung dieser im Alltag und vielleicht ist das heutzutage aus genannten Gründen schwieriger geworden, sodass wir umso mehr für unsere Werte einstehen müssen.
Anne Schluck
Was sind für Sie zentrale ärztliche Werte?
Aufrichtigkeit, Demut, Integrität und Ehrlichkeit, Achtsamkeit für die Autonomie der Patienten. Bereitschaft zum lebenslangen Lernen, kritische Reflexion des eigenen Tuns und Übernahme von Verantwortung.
Wie gelingt es, diese Werte im beruflichen Alltag umzusetzen?
Wir versuchen in unserer Praxis, diese Werte als Team zu leben. Das gelingt mal besser, mal schlechter. Wichtig sind dabei eine gute Organisation, gegenseitige Unterstützung und Wertschätzung und der gemeinsame Wille, das Wohl des Patienten in den Mittelpunkt zu stellen.
Was hindert Sie daran?
Im Großen und Ganzen hindert mich wenig daran. Letztlich gibt es aber ein Mismatch zwischen den vorhandenen Ressourcen und dem umfassenden Leistungsversprechen aus der Politik. Dieses Missverhältnis wird in den nächsten Jahren gesamtgesellschaftlich zu diskutieren sein.
Was hat sich im Laufe Ihrer ärztlichen Tätigkeit an der Werteorientierung für Sie persönlich geändert?
Eigentlich nichts, nicht zuletzt, weil ich das Glück hatte, gute Vorbilder im ärztlichen Handeln gehabt zu haben.
Hat sich nach Ihrer persönlichen Wahrnehmung die ärztliche Moral verändert?
Die Moral an sich hat sich nach meiner Ansicht nicht verändert. Die zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitssystems setzt aber viele Kolleginnen und Kollegen unter Druck bis hin zu moralischen Verletzungen (moral distress). Es ist wichtiger denn je, dass sich jede Ärztin, jeder Arzt dieser Problematik stellt. Es ist gut, geschlossen als gesamte Ärzteschaft auch gegen Widerstände Haltung zu zeigen, aber das reicht nicht. Jede und jeder Einzelne sollte z.B. im eigenen Bereich vermeintliche Sachzwänge hinterfragen.
Dr. Victoria Witt
Was sind für Sie zentrale ärztliche Werte?
Wertschätzender, respektvoller Umgang mit PatientInnen, MitarbeiterInnen und KollegInnen. Genfer Gelöbnis als Kompass. PatientInnen mit ihren Krankheiten, Sorgen und Hoffnungen zur Seite stehen – aber mit der Frage, ob der Mensch möchte, dass ich ihm helfe.
Wie gelingt es, diese Werte im beruflichen Alltag umzusetzen?
Zeit und wertschätzende Kommunikation. Ein klares Zeitmanagement. Im Rahmen der Aus- und Weiterbildung Werte nicht nur an ärztliche KollegInnen, sondern auch medizinisches Assistenzpersonal weiterzugeben. Regelmäßige Fortbildung. Durch Vernetzung und persönliche Kontakte wächst Verständnis untereinander. Ehrenamtliches Engagement bei der DGIM, Ärztenetz und der Ärztekammer.
Was hindert Sie daran?
Die begrenzte Ressource Zeit, betriebswirtschaftliche Nutzenoptimierung. „Misstrauenskultur“ von Patientenseite, interkollegial/intersektoral, Krankenkassen etc. verhindert eine ehrliche Kommunikation. Nicht mehr zeitgemäß ist ein übermäßiger Konkurrenzgedanke – die Versorgungsrealität holt uns ein.
Was hat sich im Laufe ihrer ärztlichen Tätigkeit an der Werteorientierung persönlich verändert?
Mit zunehmender Berufserfahrung Bereitschaft für mehr Verantwortung, daher Wechsel in die Selbständigkeit. Im Krankenhaus: Die Krankheit kommt, der Patient geht … in der Praxis: Die Krankheit geht, der Patient bleibt. Nach langjähriger ambulanter Tätigkeit: Ausbau des ehrenamtlichen und berufspolitischen Engagements. Mitgestaltung. Vergrößerung des Handabdruckes, nicht nur in Zusammenhang mit Nachhaltigkeit. Bei steigenden Anforderungen das Erkennen von eigenen Grenzen, Beschäftigung mit Arztgesundheit und Resilienz.
Hat sich nach Ihrer Wahrnehmung die ärztliche Moral verändert?
Meine Wahrnehmung: Studierende und Ärzte und Ärztinnen in Weiterbildung starten weiterhin mit großem Idealismus. Versorgungsrealität: Zeitmangel, Personalmangel, Ökonomisierung der Medizin, veränderte Mediennutzung, „Misstrauenskultur“, politische Unsicherheit, demografischer Wandel, Grenzen der persönlichen Leistungsfähigkeit verändern den Umgang untereinander und mit den PatientInnen. Vorbildfunktion der Weiterbilder, echtes Interesse an echter Kommunikation und Lehre.
Dr. Christine Schwill
Was sind für Sie zentrale ärztliche Werte?
Zentrale ärztliche Werte sind für mich Verantwortung, Menschlichkeit, ein respektvoller Umgang miteinander und eine Bereitschaft, Wandel positiv mitzugestalten – beispielsweise bezogen auf die Themen Digitalisierung oder Klimawandel. Wichtig ist mir auch der Anspruch, wie ihn das Genfer Gelöbnis beschreibt: den Beruf ohne Vorurteile auszuüben – unabhängig von Alter, Krankheit, Geschlecht oder sozialer Stellung. Dabei geht es nicht nur um eine ganzheitliche und ethische Haltung, die unsere Patient*innen in den Mittelpunkt stellt, sondern auch um Achtsamkeit für die eigene Gesundheit und die unserer Kolleg*innen.
Wie gelingt es, diese Werte im beruflichen Alltag umzusetzen?
Diese Werte lassen sich am ehesten durch Empathie, offene Kommunikation und die Bereitschaft zu kontinuierlichem Lernen umsetzen. Kollegialer Austausch und ein gutes Klima im Team tragen dazu ebenso bei, wie kontinuierliche Selbstreflexion und ein Bewusstsein dafür, dass jede Entscheidung dem Wohl der Patient*innen dienen soll. Gleichzeitig finde ich wichtig, den Fokus auf die eigene psychische und physische Gesundheit nicht zu verlieren, um die Motivation und Freude am Beruf aufrecht zu erhalten.
Was hindert Sie daran?
Häufig stehen Bürokratie, Zeitmangel und Personalknappheit einer werteorientierten Arbeit im Weg. Diese Faktoren erschweren es, den Patient*innen die individuell notwendige Aufmerksamkeit zu widmen. Trotzdem bleibt es eine ärztliche Kernaufgabe, den Fokus auf das Wesentliche nicht zu verlieren – die menschliche Verbindung.
Was hat sich im Laufe Ihrer ärztlichen Tätigkeit an der Werteorientierung für Sie persönlich geändert?
Mit zunehmender Erfahrung und Verantwortung in der ärztlichen Tätigkeit ist bei mir das Bewusstsein für die Komplexität von Entscheidungen und die Bedeutung präventiven Arbeitens gewachsen. Weiterhin liegt ein verstärkter Fokus darauf, Patient*innen nicht nur zu behandeln, sondern ihre Lebensqualität zu verbessern. Das kann gerade bei chronischen Erkrankungen oder schlechten Prognosen einen Perspektivwechsel bedeuten – vom Heilen zum Begleiten. Zunehmend erkenne ich außerdem, u.a. vor dem Hintergrund meiner psychiatrischen Tätigkeit, in der ich schon Kolleg*innen behandelt habe, den wichtigen Wert einer guten Balance zwischen persönlichem Engagement und Selbstfürsorge.
Hat sich nach Ihrer persönlichen Wahrnehmung die ärztliche Moral verändert?
In einer Diskussionsrunde brachte neulich jemand den Satz „Produktivität verhindert Purpose“ ein – ein Gedanke, der auf die mitunter enormen Belastungen des klinischen Alltags anspielte. Trotz Bürokratie und Personalmangel halte ich daran fest, dass die meisten Ärzt*innen einen hohen moralischen Anspruch haben und darunter leiden, wenn sie ihm nicht gerecht werden können (dafür sprachen übrigens auch die Ergebnisse einer medizinethischen Studie, an der ich mitgearbeitet habe). Genau dieser Anspruch motiviert uns, auch in schwierigen Zeiten an unserer sinnstiftenden Arbeit festzuhalten und einen Beitrag zur psychischen und körperlichen Gesundheit unserer Patient*innen zu leisten.
Dr. Peer-Gunnar Knacke
Was sind für Sie zentrale ärztliche Werte?
Ich schätze den Arztberuf mit seiner Ausrichtung auf das Patientenwohl. Selbstverwaltung erlaubt uns eine eigenständige Organisation und gibt uns eine gewisse Freiheit. Wir arbeiten zudem fachärztlich eigenverantwortlich, das fordert und bestätigt uns tagtäglich. Etwas Sinnvolles zu tun und helfend zu agieren führt zu einer Wertschätzung, die gut tut.
Wie gelingt es, diese Werte im beruflichen Alltag umzusetzen?
Weitestgehend kann ich meine Vorstellungen der ärztlichen Tätigkeit tatsächlich umsetzten. Natürlich wird uns Zeit, die wir gern Patienten widmen wollen, durch über die Jahre zunehmende Dokumentationspflichten, auch im Rahmen der Digitalisierung, genommen.
Was hindert Sie daran?
Einerseits führt die Arbeitsverdichtung dazu, weniger Zeit für Patienten zu haben. Ökonomische Zwänge zum Gesundheitssystem können außerdem dazu führen, dass ethische Konfliktsituationen entstehen. So hinterfrage ich im klinischen Alltag teils Therapien. Allerdings arbeite ich als „serviceorientierter“ Anästhesist und Notfallmediziner. Interkollegiale Gespräche können vieles klären, sodass ich diesen Beruf immer wieder ergreifen würde.
Was hat sich im Laufe Ihrer ärztlichen Tätigkeit an der Werteorientierung für Sie persönlich geändert?
Ich bin seit 1985 approbierter Arzt und durchgehend in Kliniken tätig, zunächst in der Chirurgie und Kinderchirurgie, dann in der Anästhesie. Früher waren Krankenhäuser weitestgehend kommunal und ärztlich geleitet. Über die Jahre hat die Ökonomisierung unaufhaltsam zugenommen. Man kann auch nicht wie früher medizinisches Material bestellen, welches man favorisiert, sondern muss nehmen, was genehmigt wird. Die Chefärztinnen und Chefärzte unterstehen Geschäftsführungen und sind eher Bereichsleiter, natürlich immer noch mit hoher Verantwortung.
Hat sich nach Ihrer persönlichen Wahrnehmung die ärztliche Moral verändert?
Ich denke, dass Moral und Ziele der Ärzte unverändert sind. Zwischenmenschliche Werte zählen. Allerdings ist zu beobachten, dass die Zufriedenheit im Beruf sinkt. Das mag dem geschuldet sein, dass es nicht immer primär um Patienten, sondern in starkem Maße auch um Erlösrelevanz geht. Unter Zeitdruck leidet die notwendige Sorgfalt im Umgang mit Patienten.
„Stabile Moral“
Wie antworten die Vorsitzenden von Berufsverbänden aus Schleswig-Holstein auf die Frage nach ihren Werten? Wir haben ihnen die gleichen Fragen wie dem Vorstand gestellt.
Dr. Ralf Schmitz, BV der Deutschen Chirurgie (BDC) Schleswig-Holstein
Was sind für Sie zentrale ärztliche Werte?
Als Ärzte sind wir verpflichtet, unseren Patienten zu helfen, ihre Leiden zu lindern und sie zu unterstützen, ein selbstbestimmtes und möglichst gesundes Leben zu führen. Dies alles ohne Ansehen von Person, Glauben, Geschlecht, Nationalität oder Ethnie. Über allem steht dabei das Nil-nocere-Prinzip, also dem Patienten nicht schaden.
Wie gelingt es, diese Werte im beruflichen Alltag umzusetzen?
Der Patient steht im Mittelpunkt unseres Handelns, sowohl in der Praxis als auch im Krankenhaus. Die Koordination der Abläufe orientiert sich dabei an den Bedürfnissen der Patienten und an vorhandenen wirtschaftlichen Ressourcen. Unsere Patienten können so mit allen geeigneten Mitteln im chirurgisch-orthopädischen Fachgebiet behandelt werden. Hilfreich sind weiter die Etablierung und Fortentwicklung unseres Qualitätsmanagements.
Was hindert Sie daran?
Zeit und mangelnde Ressourcen. Wir würden unsere Patienten sehr gerne zügiger behandeln – aber dafür benötigen wir mehr Personal und eine noch bessere räumliche Ausstattung. Dafür aber reicht die Finanzierung der ambulanten medizinischen Versorgung leider immer weniger aus.
Was hat sich im Laufe Ihrer ärztlichen Tätigkeit an der Werteorientierung für Sie persönlich geändert?
Die Ökonomie hat sich leider immer deutlicher in den Vordergrund geschoben. Ich bin noch in einem System aufgewachsen, wo es galt, dass ein Patient erst dann aus dem Krankenhaus entlassen wurde, wenn dieser selbst so weit war und alles weitere gesichert war. Dies ist leider schon seit vielen Jahren nicht mehr der Maßstab. Die Folgen sind blutige Entlassungen und unzufriedene Patienten und Nachbehandler.
Hat sich nach Ihrer persönlichen Wahrnehmung die ärztliche Moral verändert?
Die Moral an sich ist die gleiche wie zu Beginn des Studiums. Allerdings muss die Moral immer häufiger in Konkurrenz zu wirtschaftlichen Erwägungen treten. Dabei müssen wir Ärzte uns fragen, ob wir dieses oder jenes noch mit gutem Gewissen verschreiben oder veranlassen dürfen oder ob daraus Nachteile für andere Patienten erwachsen. Diese Art von Triage halte ich für äußerst unethisch und unärztlich – wird uns aber von der Politik aufgezwungen.
Dr. Jens Lassen, Vorsitzender des Verbandes der Hausärztinnen und Hausärzte in SH
Was sind für Sie zentrale ärztliche Werte?
Die Dinge, ohne die ich nicht Arzt sein könnte: Gerechtigkeit und Gleichbehandlung, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit sowie die Arbeit im Sinne von Patientenwohl und Fürsorge. Das sind alles große Worte, die aber im Alltag absolut mit Leben gefüllt sind.
Wie gelingt es, diese Werte im beruflichen Alltag umzusetzen?
Bei den genannten Punkten bekomme ich das eigentlich immer hin. Das sind so große Werte
– ich glaube nicht, dass ich normal arbeiten könnte, wenn ich die im großen Stil vernachlässigen würde.
Was hindert Sie daran?
Auch Patientinnen und Patienten sind manchmal nicht einfach. Es kann schon schwer sein, immer die nötige professionelle Distanz zu den Emotionen, Ansichten und Verhaltensweisen des Gegenübers zu halten, um weiter gut behandeln zu können und seine Grundsätze nicht mal kurz für zwei Minuten über Bord zu werfen.
Was hat sich im Laufe Ihrer ärztlichen Tätigkeit an der Werteorientierung für Sie persönlich geändert?
Ich bin jetzt seit zwölf Jahren Arzt. Die ersten Jahre sind gefüllt mit medizinischer Unsicherheit, Zweifeln am eigenen Können und dem stetigen Lernen, um ersteres zu beheben. Mittlerweile ist mehr Ruhe im Kopf, da kann man besser über das eigene Handeln reflektieren und Moral und Werte haben mehr Platz.
Hat sich nach Ihrer persönlichen Wahrnehmung die ärztliche Moral verändert?
Überhaupt gar nicht. Ich nehme meine Kolleginnen und Kollegen in der allergrößten Masse als sich zuwendende und aufrichtige Ärztinnen und Ärzte wahr.
Doris Scharrel, Landesvorsitzende des Berufsverbandes der Frauenärzte
Was sind für Sie zentrale ärztliche Werte?
Als junge Ärztin wollte ich in einem besonderen Arzt-Patienten-Verhältnis kompetent und umfassend mit dem Blick auf den ganzen Menschen tätig sein. Ich wollte ohne zeitlichen und finanziellen Druck klare Diagnosen stellen und für eine entsprechende Behandlung, Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittelversorgung sorgen. Respekt und Wertschätzung sowie der psychosoziale Hintergrund meiner Patientinnen waren mir dabei wichtig.
Wie gelingt es, diese Werte im beruflichen Alltag umzusetzen?
Das war ein langer, teilweise frustraner Lernprozess, der in der Klinik einen anderen Schwerpunkt hatte, als in der ambulanten Versorgung. Widerstand ist zwecklos – je eher man sich mit den notwendigen gesetzlichen und bürokratischen Vorgaben auseinandersetzt, umso schneller kann man sich der eigentlichen ärztlichen Tätigkeit widmen.
Was hindert Sie daran?
Meine persönliche Wertvorstellung wird untergeordnet. Der Beruf soll die Familie und alle Mitarbeitenden in der Praxis ernähren. Man gehört zu einer Fachgruppe, hat „wirtschaftlich, ausreichend, notwendig und zweckmäßig“ verinnerlicht und wird bei Fehlverhalten mit Einschränkungen und Androhung von Regressen konfrontiert.
Was hat sich im Laufe Ihrer ärztlichen Tätigkeit an der Werteorientierung für Sie persönlich geändert?
Meine zentralen ärztlichen Werte, meine persönliche Einstellung, mein Engagement haben sich nicht geändert. Aber die Belastung und Ohnmacht durch finanzielle und bürokratische Zwänge machen es schwer, sich treu zu bleiben.
Hat sich nach Ihrer persönlichen Wahrnehmung die ärztliche Moral verändert?
Für mich hat sich die ärztliche Moral und die Freude am Beruf nicht geändert. Die vertragsärztliche Tätigkeit ist für viele über Jahre bis zum Altersruhestand geplant. Sie soll mit der Familie vereinbar sein und den Arzt/die Ärztin gesund erhalten. Das sollte das Gesundheitssystem zum Erhalt einer guten ärztlichen Versorgung respektieren.
Prof. Jan Höcker, Landesvorsitzender des Berufsverbandes der Anästhesistinnen und Anästhesisten in SH
Was sind für Sie zentrale ärztliche Werte?
Empathie, Authentizität und Ehrlichkeit gegenüber dem Patienten, Gewissenhaftigkeit, Sorgfalt und Demut gegenüber der medizinischen Aufgabe, Mut und Motivation zu Veränderungen der eigenen Rahmenbedingungen.
Wie gelingt es, diese Werte im beruflichen Alltag umzusetzen?
Ich glaube, es gelingt im Großen und Ganzen, wenn man sich bemüht. Häufig bekommen wir dazu ja ein direktes Feedback – von unseren Patienten, dem Behandlungsergebnis oder aber – direkt oder indirekt – von Kollegen oder Mitarbeitern. Voraussetzung ist die Bereitschaft, aus Rückschlägen und Misserfolgen Schlüsse und Konsequenzen zu ziehen.
Was hindert Sie daran?
Streng genommen hindert mich nichts daran. Im Alltag am häufigsten die Zeit und manchmal die Konsequenz, die dieses Handeln erfordert. Es liegt also primär an mir. Die Gründe extern zu suchen, halte ich in den meisten Fällen für falsch.
Was hat sich im Laufe Ihrer ärztlichen Tätigkeit an der Werteorientierung für Sie persönlich geändert?
An der eigentlichen Werteorientierung eigentlich nichts. Geändert hat sich über die Zeit bei mir der stärkere Blick auf die Perspektive des Patienten und seine Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche, die über unsere reine medizinische Fachlichkeit weit hinausgehen. Auch wenn wir medizinisch alles richtig gemacht haben, haben wir am Ende manchmal nicht gut behandelt.
Hat sich nach Ihrer persönlichen Wahrnehmung die ärztliche Moral verändert?
Verändert hat sich meiner Ansicht nach die Einstellung zu vielen Fragen und Ansprüchen des beruflichen Alltags, der Ausbildung, der Verantwortlichkeiten usw. Die dahinterstehenden ärztlichen Werte eher nicht. Manchmal wird beides unkritisch vermengt. Ich sehe unsere Aufgabe darin, auch unter sich verändernden Rahmenbedingungen jüngere Kolleginnen und Kollegen von diesen Werten zu überzeugen.
Prof. Thorsten Feldkamp, Vorsitzender des BDI-Landesverbandes
Was sind für Sie zentrale ärztliche Werte?
Die zentralen ärztlichen Werte, die für mich das ethische und professionelle Fundament meines ärztlichen Handelns bilden sind: Wissenschaftlichkeit, Patientenautonomie, Empathie und Fürsorge.
Bei der Anwendung dieser Werte müssen sich jedoch alle diese Aspekte am Patientenwohl an oberster Stelle orientieren. Dies ist meine persönliche Leitstruktur – deren Umsetzung im klinischen Alltag eine große Herausforderung ist und leider nicht immer zufriedenstellend gelingt.
Wie gelingt es, diese Werte im beruflichen Alltag umzusetzen?
Mein Anspruch ist, mein ärztliches Handeln stets durch kontinuierliche Weiterbildung an die neueste wissenschaftliche Evidenz und das aktuelle Wissen anzupassen. Bei der Umsetzung dieser Therapiestrategien muss die Selbstbestimmung des Patienten allerdings stets respektiert werden. Zentral ist deswegen für mich die verständliche Aufklärung des Patienten über Diagnose, Prognose
und Therapieoptionen, sodass der Patient die für ihn individuell am besten erscheinende Therapieoption auswählen kann.
Was hindert Sie daran?
Hindernisse bei der Ausübung der o.g. Prinzipien sind vor allem die zunehmende Verdichtung der ärztlichen Tätigkeit durch das erhöhte Patientenaufkommen und die Zunahme von „arztfremden“ Tätigkeiten. Zusätzlich steht das ärztliche Handeln stets unter dem Druck einer ausreichenden Wirtschaftlichkeit, welche häufig oft im Gegensatz zu meinen ärztlichen Werten steht.
Was hat sich im Laufe Ihrer ärztlichen Tätigkeit an der Werteorientierung für Sie persönlich geändert?
Die ärztliche Tätigkeit ist zunehmend durch wirtschaftlichen Druck geprägt, welcher so am Anfang meiner ärztlichen Tätigkeit nicht vorhanden war. Dies macht es zunehmend schwerer, meine persönliche Werteorientierung umzusetzen, da dies Zeit und geistige Kapazitäten erfordert, die besser in der Patientenversorgung investiert wären, so aber nun für die Patienten fehlen.
Hat sich nach Ihrer persönlichen Wahrnehmung die ärztliche Moral verändert?
Eine Änderung der ärztlichen Moral kann ich nicht wahrnehmen. Ich nehme aber bei vielen Kollegen eine zunehmende Frustration wahr, das Spannungsfeld zwischen dem hohen wirtschaftlichen Druck und dem Anspruch an ihre eigenen ärztlichen Werte aufzulösen.
Dr. Ralf van Heek, Landesvorsitzender im Berufsverband der Kinder- und Jugendärztinnen und-ärzte
Was sind für Sie zentrale ärztliche Werte?
Für mich sind zentrale ärztliche Werte die Orientierung ärztlichen Handelns am Wohl der Patientinnen und Patienten unabhängig von deren Geschlecht, Herkunft oder anderer Gruppenmerkmale gemäß der Genfer Erklärung des Weltärztebundes. Dies beinhaltet die bestmögliche Beachtung ihrer biopsychosozialen Konstitution und Bedingtheit, stellt Bedarf über Bedürfnis und den Bedarf von Kindern und Jugendlichen über die Wünsche und Zahlungsfähigkeit von deren Eltern, beachtet aber deren Sorgen, Krankheitskonzepte und Ressourcen.
Wie gelingt es, diese Werte im beruflichen Alltag umzusetzen?
Die Umsetzung werteorientierten Handelns in der Praxis erfordert Patientenlenkung in bedarfsorientierte Versorgung, also Organisation von entsprechenden Terminschienen, unabhängig von der patientengesteuerten und bedürfnisorientierten Akutsprechstunde. In größeren Organisationseinheiten wie MVZ oder Kliniken bedarf es dazu der oft schwierigen Aushandlung der Werte und der erforderlichen Strukturen und Abläufe.
Was hindert Sie daran?
Hinderlich für eine werteorientierte Medizin können die genannten Bedürfnisse und Wünsche von Patientinnen und Patienten oder Eltern sein, das Fehlen notwendiger Ressourcen im medizinischen und außermedizinischen Netzwerk (Heilmittel, Eingliederungsmaßnahmen, Schulen, Kitas). Allgemein steht das Primat der Ökonomie einer werteorientierten Medizin entgegen.
Was hat sich im Laufe Ihrer ärztlichen Tätigkeit an der Werteorientierung für Sie persönlich geändert?
Im Laufe von 40 Jahren medizinischer Tätigkeit haben sich meine ärztlichen Werte entlang meines allgemeinen Wertesystems entwickelt, aber nicht grundsätzlich geändert. Die Werteorientierung meines Handelns konnte ich natürlich durch zunehmendes Wissen, aber auch durch ständige Reflexion in meiner 38-jährigen Balint-Gruppe gestalten und in meiner Einzelpraxis umsetzen.
Hat sich nach Ihrer persönlichen Wahrnehmung die ärztliche Moral verändert?
In der Pädiatrie erlebe ich eine Stabilität der ärztlichen Moral, die allerdings durch Elternansprüche und Überinanspruchnahme und Ökonomisierung der Kliniken oft überfordert wird. Daraus resultiert manchmal Resignation und Sarkasmus oder Empörung gegenüber den Rahmenbedingungen oder deren Repräsentanten oder gegen zu anspruchsvolle oder non-compliante Eltern. Verändert hat sich sicherlich, dass die Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte eigene Lebensqualität und Familienfreundlichkeit auch in ihrer Vorbildfunktion höher halten als früher, wodurch auch die eigenen Ressourcen willentlich begrenzt werden, was die genannten Konflikte verschärft.