Das Männliche als stillschweigende Norm
Männlich, weiß, 1,75 Meter groß und 80 Kilo schwer: Das ist in der Medizin noch immer die Norm, der Standardpatient, anhand dessen beispielsweise radiologische Dosen berechnet werden. Alles andere ist eine Abweichung davon. Das gilt auch für Frauen. In Pinneberg wurde Anfang Oktober in einer Online-Veranstaltung über das Thema diskutiert.
Welche Folgen es haben kann, in Forschung, Lehre und Klinik als Abweichung betrachtet zu werden, machten die Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen Awa Naghipour und Laura Wortmann im Oktober bei ihrem Vortrag zu „geschlechtersensibler Medizin“ deutlich. Bei der Online-Veranstaltung der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Pinneberg und der Gemeinde Rellingen sowie des Frauennetzwerks Pinneberg e. V. hatten sich fast 50 Zuhörende zugeschaltet. Die beiden Ärztinnen arbeiten am bundesweit ersten Lehrstuhl für Gendersensible Medizin an der Universität Bielefeld und sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen in der AG 10 „Geschlechtersensible Medizin“. Sie forschen und arbeiten an der Implementierung geschlechtersensibler Inhalte in der Medizin, in Curriculums-Entwicklung und Lehre sowie an Leitlinien.
Dabei beschreiben sie dicke Bretter, die zu bohren sind: „Der Androzentrismus ist immer noch der stillschweigende Standard“, sagt etwa Laura Wortmann. Dabei hatte die Frauengesundheitsbewegung schon in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts kritisiert, dass die „Bikini-Perspektive“ zu kurz greife. Denn wenn Frauen überhaupt in ihrer „Abweichung“ betrachtet wurden – und dabei habe es zwar Fortschritte gegeben, aber es gebe weiterhin viel zu tun, wie Awa Naghipour betonte – dann mit Blick auf ihre reproduzierenden Organe und ihre primären und sekundären Geschlechtsmerkmale, also hinsichtlich ihrer Gene, Gonaden und Geschlechtsmerkmale. Dabei beschreibe das lediglich biologische Dimensionen von Geschlecht, und diese seien nicht eindeutig, sondern variantenreich.
Dabei ist es eigentlich noch viel komplizierter: Denn auch die Dimensionen des sozialen Geschlechts haben Einfluss auf Gesundheit und Krankheit: „Da gibt es soziale Zuschreibungen und Identitäten und dabei eine Hierarchisierung. Diese Dimensionen sind flexibel. Sie können sich im Laufe eines Lebens, im Laufe der Zeit und über kulturelle Grenzen hinweg verändern“, erklärte Laura Wortmann. Diese Unterschiede ließen sich deshalb nur schwer operationalisieren.
Da ist beispielsweise die Exposition: Es waren und sind vor allem Männer, die in Minen arbeiten – entsprechend sind sie häufiger Kohlestaub ausgesetzt als Frauen. Aber da ist auch das Verhalten: Frauen achten in der Regel mehr auf gesunde Ernährung als Männer, und sie nehmen das Gesundheitssystem anders in Anspruch – unter anderem wohl auch deshalb, weil sie es gewohnt sind, einmal jährlich zur gynäkologischen Vorsorge zu gehen. Aber auch die Behandlung durch das medizinische Personal ist häufig unterschiedlich. Wortmann erklärt das am chronischen Schmerz: „Biologische Faktoren beeinflussen die Schmerzempfindlichkeit. Aber auch kulturelle Unterschiede wirken sich darauf aus, wie wir über Schmerz berichten. Entsprechend unterschiedlich ist auch die Behandlung“.
Awa Naghipour hat 2020 den Verein „Feministische Medizin e.V.“ mit gegründet. Dieser setzt sich für Gleichberechtigung und Antidiskriminierung in der Medizin und im Gesundheitssystem ein. Sie verweist darauf, dass auch die Forschung überwiegend mit männlichen Probanden und Tierversuche überwiegend an männlichen Tieren stattfinde. Mit Konsequenzen für die Behandlung. Klassisches Beispiel: der Herzinfarkt. Weil der bei Männern oft mit anderen Symptomen einhergehe als bei Frauen, würde er bei letzteren häufig später erkannt und therapiert. Der im Bewusstsein im Vordergrund stehende „Brustschmerz“ tritt bei Frauen seltener auf und andere Varianten an Symptomen zeigen sich bei Frauen häufiger als bei Männern. Zwar hätte sich der „Gender Health Gap“ in den vergangenen Jahren verringert, sei aber immer noch vorhanden.
Eine geschlechtersensible Medizin wäre aber nicht nur im Sinne der Frauen – auch Männer würden profitieren. Denn was bei den Frauen der Herzinfarkt, ist bei Männern die psychische Erkrankung – inklusive des Risikos der Unterversorgung. Awa Naghipour erklärt das am Beispiel Depressionen: „Männer zeigen häufiger externalisierte Symptome wie Aggressivität und Reizbarkeit, Frauen eher internalisierte Symptome. Das führt dazu, dass Depressionen bei Männern häufiger unerkannt und unbehandelt bleiben“. Die Statistik weist aus, dass Frauen im Vergleich zu Männern etwa doppelt so oft an Depressionen erkranken und häufiger unter Angststörungen leiden, Männer dafür unter Abhängigkeitserkrankungen. Allerdings gebe es bei Männern eine dreieinhalb mal so hohe Suizidrate wie bei Frauen – obwohl Frauen dreimal mehr Suizidversuche unternähmen als Männer. Wortmann sieht hinter diesen Zahlen auch eine Hierarchisierung in der Geschlechterordnung: „Krankheiten werden nach dem Wissen über männliche Krankheiten versorgt. Psychische Krankheiten werden eher dem hysterischen weiblichen Geschlecht zugeordnet“.
Aber auch Osteoporose, Autoimmunerkrankungen und Brustkrebs würden bei Männern später erkannt und behandelt. Für Naghipour ist deshalb klar: „Geschlechterstereotypisiertes und nicht differenziertes Einordnen von Symptomen und Erkrankungsbildern benachteiligt und gefährdet alle Geschlechter." Eine geschlechtersensible Medizin sei deshalb im Sinne aller Geschlechter.
Das gelte im Übrigen auch für die Forschung: So habe man beispielsweise bei dem Herzmedikament Digoxin die höhere Sterblichkeit bei Frauen zunächst übersehen, weil man die Studien nicht gezielt nach Geschlechtern ausgewertet habe. „Es reicht also nicht, Männer wie Frauen bei Studien einzubeziehen, sondern man muss auch gezielt nach Geschlechtern auswerten“, so Naghipour.
Die AG 10 „Geschlechtersensible Medizin“ unter der Leitung von Prof. Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione will all‘ das verbessern. Dass die ab 2025 geltende Approbationsordnung vorsehe, geschlechtersensible Medizin im Medizinstudium zu vermitteln, sei ein großer Fortschritt, so Wortmann. „Aber das dauert alles sehr lange“. An der Universität Bielefeld würde „Gender Awareness“ schon bei den Einführungsveranstaltungen des Medizinstudiums zum Thema gemacht. Es gebe zudem Vorlesungen zu biomedizinischen Unterschieden, zu Inter- und Transgeschlechtlichkeit. Und manchmal wird auch an ganz kleinen Schrauben gedreht: „Wenn es um die klinischen Kompetenzen im ersten bis dritten Semester geht, üben wir die Reanimation inzwischen auch an Dummies, die BH tragen“. Und auch in der ärztlichen Kommunikation würden Aspekte der Geschlechterunterschiede behandelt, das Thema „Diversity“ sei im Pflicht-Curriculum verankert. Anders als an vielen anderen Universitäten, wo es sich um Wahlfächer handele.
Naghipour kümmert sich in einem Projekt zudem um klinische Leitlinien. Beginnend mit der Inneren Medizin werden dabei europäische Leitlinien zunächst auf geschlechtersensible Keywords untersucht und später daraus entsprechende Handlungsempfehlungen erarbeitet. Ziel: „Wir möchten ein geschlechtersensibles Bewusstsein implementieren“, so Naghipour. Denn nur wer dafür sensibel sei, könne die richtigen Fragen stellen.
Aber erledigt sich das Problem nicht bald von ganz alleine, weil inzwischen mehr Frauen als Männer Medizin studieren? „Nicht unbedingt“, glauben die jungen Ärztinnen. „Es stimmt, dass es manche schon nervös macht, dass je nach Hochschule 60 bis 70 % der Studierenden im ersten Semester Medizin Frauen sind. Es gab da ja schon Vorschläge einer Männerquote“, sagt Wortmann. Aber mehr Frauen im Studium machten noch keine geschlechtersensiblere Ausbildung und schon gar keine geschlechtersensiblere Medizin in Klinik und Forschung, „da entsteht kein automatischer Druck“. Außerdem kehre sich das Geschlechterverhältnis mit zunehmender Hierarchie-Ebene ja auch wieder um: „Bei den Habilitationen ist das Verhältnis immer noch 70 zu 30 zugunsten der Männer“, sagt Naghipour. „Da sieht man, wo die Deutungs- und Entscheidungshoheit liegt“.
Ihr Appell: „Es ist wichtig, dass wir den Blick auf die Gesellschaft weiten. Denn die besteht nicht nur aus Standardpersonen, sondern aus Menschen mit vielen Attributen“.
Autorin: Sandra Wilsdorf