Arztberuf bleibt für Sinti tabu
Rund 5.000 Sinti und Roma leben in Schleswig-Holstein und damit bezogen auf die Bevölkerungszahl deutlich mehr als in den meisten Bundesländern.
Unser Bundesland gewährt ihnen seit 2012 per Landesverfassung Schutz und Förderung und stellt sie damit den Dänen und den Friesen als Minderheiten gleich. Gibt es dennoch Sorgen und Nöte, wo sind mögliche Schnittmengen zur ärztlichen Arbeit? Darüber sprachen Vertreter des Landesverbandes der Sinti und Roma aus Kiel in Bad Segeberg mit der Vizepräsidentin der Ärztekammer, Dr. Gisa Andresen.
Über wenige Bevölkerungsgruppen gibt es wohl so viele Vorurteile und zugleich so viel Unwissenheit wie über Sinti und Roma. Sie seien „umherziehendes Volk“, schnell mit dem Messer und wo sie auftauchen, da bringe man besser sein Hab und Gut in Sicherheit – diese und weitere Vorurteile existieren über Sinti und Roma. Matthäus Weiß ist einer von ihnen. Als Vorsitzender des Landesverbandes der Sinti und Roma kennt er die Vorurteile, immer wieder begegnen sie ihm im Alltag – seit seiner Geburt vor 73 Jahren. Matthäus Weiß ist in Kiel geboren und lebt seither auch ausschließlich dort. „Umherziehend“ ist er also schon mal nicht und sein Interesse an Messern und am Eigentum anderer Menschen ist gering.
Stattdessen erweisen er und seine Frau Anna sich als interessante Gesprächspartner für Dr. Gisa Andresen, die einiges über Sinti und Roma erfährt und bestätigt bekommt, dass Geschichte zwar Vergangenheit ist – aber zum Teil bis heute nachwirkt. Verbrechen der Nationalsozialisten zeigen bis heute die Folgen bei Sinti und Roma. Ein Beispiel ist der Schulbesuch des 1949 geborenen Matthäus Weiß. Den untersagte ihm nämlich seine Mutter, weil sie selbst als Kind aus der Schule heraus ins Konzentrationslager deportiert wurde. Sie überlebte zwar die fünf Jahre, das Trauma aber blieb – und die Angst, dass dem eigenen Kind Ähnliches widerfahren könnte. Der nach dem Krieg geborene Matthäus Weiß wuchs deshalb als Analphabet auf.
Eine andere Nachwirkung: Sinti ist es ausdrücklich untersagt, den Arztberuf zu ergreifen. „Das ist ein Tabu für uns Sinti“, berichtet Weiß in Bad Segeberg. Er verweist auf die Beteiligung von Ärzten an den Menschenversuchen und weiteren Gräueltaten der Nazi-Zeit an seiner Bevölkerungsgruppe. Weiß kann sich nur schwer vorstellen, dass Sinti diese traumatisierenden Erfahrungen so verdrängen könnten, dass sie den Medizinerberuf anstreben: „Das wird sich nicht ändern.“
Vertrauen zu Ärztinnen und Ärzten von heute dagegen besteht durchaus. Regelmäßige ärztliche Versorgung ist für Sinti und Roma selbstverständlich, sie sind gesetzlich krankenversichert und mit der Versorgung in Deutschland mehr als zufrieden, wie Weiß versichert. Bekannt ist ihm auch nicht, dass Sinti oder Roma in Krankenhäusern oder Arztpraxen mit Vorurteilen konfrontiert werden. „Gemecker gibt es überall, aber fast jeder von uns ist mit der Arbeit der Ärzte zufrieden. Das gilt auch für das deutsche Gesundheitswesen insgesamt“, versichert er.
Seine Frau, als Geschäftsführerin des Landesverbandes aktiv, wäre es wahrscheinlich bekannt, wenn es Anlass zu Kritik gäbe. Fast alle Sinti und Roma in Schleswig-Holstein kennen den Verband und suchen das Büro des Landesverbandes auf, wenn sie Probleme oder Schwierigkeiten haben, um sich auszutauschen, sich beraten zu lassen und nach Lösungen zu suchen. Diesen Zusammenhalt pflegen sie noch stärker innerhalb der engeren Familie. Dies zeigt sich zum Beispiel, wenn einer von ihnen in die Klinik muss. „Bei einem Krankenhausbesuch wird niemand von uns allein gelassen. Wir lassen ein zweites Bett aufstellen, damit immer jemand zur Seite stehen kann“, berichtet die vor über 55 Jahren aus Sardinien nach Deutschland gekommene Italienerin.
Dr. Gisa Andresen kann den Familienzusammenhalt aus ihrer Krankenhaustätigkeit bestätigen. Sie hält diese Begleitung für die Betroffenen für wichtig, auch wenn sie für die Klinikorganisation nicht immer einfach ist. „Das kennen wir auch aus anderen Kulturen, das lässt sich regeln. Manche haben allerdings auch übertriebene Vorstellungen von Begleitung. Kein Krankenhaus kann ganze Clans als Besucher bewältigen, weil ein Mitglied stationär versorgt werden muss“, sagt sie.
Das trifft bei Ehepaar Weiß auf Verständnis. Wichtig ist ihnen, dass niemand allein bleiben muss. Unvorstellbar für Sinti ist es, ein Mitglied der Familie in die Obhut einer stationären Pflegeeinrichtung zu geben. Diese Pflege leisten die Familien selbst bis zum Tod – wie es in unserer Gesellschaft insgesamt bis vor einigen Jahrzehnten noch gängige Praxis war. Sinti unterscheiden bei der Pflege nach Geschlechtern: Frauen pflegen überwiegend Frauen, Männer überwiegend die Männer. Professionelle Unterstützung, etwa durch ambulante Pflegedienste, nehmen sie in Anspruch. Diese Haltung imponierte Andresen: „Ich wünsche mir mehr von diesem Miteinander. Das ist in unserer Gesellschaft leider etwas abhanden gekommen.“
Text: Dirk Schnack